Zerrissenes Herz (German Edition)
Tages, wenn sie alt wären und irgendwo in ihren Schaukelstühlen auf der Veranda säßen, würde er ihr alles erzählen. Doch bis dahin hatte er Stillschweigen geschworen.
E-Mails, übers Internet chatten und Anrufe per Skype waren verboten. In seinen Briefen nach Hause schrieb er über das Wetter und die Landschaft und das Leben auf dem Stützpunkt. Wie der Rest der Welt glaubte auch Daisy, dass es sich einfach um ein gemeinsames Training mit der kolumbianischen Air Force handelte.
Ramos erwachte leise stöhnend. Julian konnte sich die Schmerzen, die er litt, nur ungefähr vorstellen. „Wie geht es dir?“, fragte er.
„Einfach supi“, erwiderte Ramos auf Englisch. Er übernahm gern die eine oder andere Redensart, die er von seinen Kumpels auf dem Stützpunkt aufgeschnappt hatte. Er deutete auf den Zaun. „Es ist fast dunkel. Geh da rüber und schneide den Zaun durch.“ Seine Stimme klang schwach und schleppend vor Schmerzen.
Jemand – vermutlich eine Wache – patrouillierte mit einer Taschenlampe. Sie sahen, wie sich der Lichtkegel unaufhörlich auf sie zubewegte. Angetrieben von einem Gefühl höchster Dringlichkeit,machte Julian sich ans Werk.
Die Drahtschere hatte kaum eine Chance gegen den festen Maschendraht. Jeder Schnitt war ein Kampf. Dennoch gelang es Julian, eine Öffnung zu schaffen, die gerade groß genug war, um durchzukrabbeln. Mit Ramos’ verletztem Arm und nicht zu benutzendem Bein würde das allerdings zu einer Herausforderung. Er brauchte mehr Platz, um durchzukommen. Der Strahl der Taschenlampe glitt über das Gelände. Unterdrückt fluchend setzte Julian seine Arbeit fort. Nach einer gefühlten Ewigkeit kehrte er zu Ramos zurück.
„Okay, amigo . Zeit zu …“ Er hielt inne. Ramos war weg. Der Wachmann mit der Taschenlampe kam nicht mehr näher. Unter dem dumpfen, verschwiegenen Rascheln des Dschungels hörte Julian das Knacken von Funkgeräten und miteinander sprechende Männer. Er kroch weiter vor und sah, dass Ramos von Taschenlampen angestrahlt auf dem Boden lag.
Vier bewaffnete Männer hielten ihre AK-47 auf ihn gerichtet.
„No dispare“ , rief Ramos, seine Stimme rau vor Schmerz und Verzweiflung. „ Por favor, no dispare.“ Nicht schießen. „Me rendo.“ Das sagte er mehrmals in Folge. „Me rendo.“ Ich ergebe mich. Er begann, um Gnade zu betteln, und bot seine Kooperation an.
Julian wusste, dass Ramos sein Team niemals in Gefahr bringen würde. Mehr noch, er wusste mit absoluter Gewissheit, dass es keine Möglichkeit mehr gab, dass sie sich beide in Sicherheit brächten. Francisco hatte sich geopfert, versuchte, Zeit zu schinden und hoffte, dass Julian verschwand, bevor die bewaffnete Patrouille sich auf die Suche nach ihm begeben konnte. Er wog seine beschissenen Möglichkeiten ab. Er könnte sich gemeinsam mit Ramos ergeben und hoffen, dass sie nicht beide hingerichtet wurden. Er könnte schießend aus der Dunkelheit brechen, ein einzelner Mann gegen vier Maschinenpistolen. Oder er könnte abhauen. Er hatte ungefähr drei Sekunden Zeit, um sich zu entscheiden.
Er schnappte sich seine Ausrüstung und tauchte durch dasLoch im Zaun. Völlige Dunkelheit umschloss ihn, er musste sich allein auf sein GPS verlassen. Der Zeit nach zu urteilen, die er bergauf gelaufen war, war er jetzt ungefähr eine Meile entfernt. Immer noch rennend, funkte er die Basis an.
„Geh einfach zum Heli“, befahl de Soto. „Versuch nur, ihn zu erreichen.“
In dem Wissen, dass sein Team in der Nähe des Strands auf ihn wartete, rannte er in Richtung Westen. Auch wenn es zu dunkel war, um etwas zu sehen, konnte er den Hubschrauber schon hören. Sein GPS sagte ihm, dass er nur noch wenige Hundert Meter entfernt war.
Doch seine Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Jemand anders hatte den Vogel ebenfalls entdeckt. Dank der Brücke rasten vier Humvees und ein paar Geländewagen mit montierten Maschinengewehren auf der Ladefläche über den Strand. Die Flügel des Helikopters drehten sich immer schneller. Julian rannte vor den bewaffneten Trucks davon. Er hielt den Kopf unten, während er versuchte, den Scheinwerfern der Wagen zu entkommen. Ein Patronenhagel jagte ihn und ließ den Sand um ihn herum hochspritzen. Er spürte den Wind des Rotors, der noch mehr Sand aufwirbelte, der gegen seine Brille peitschte und auf seiner Haut brannte.
Er sprang in den Helikopter.
„Ramos?“, fragte Sergio.
„Kommt nicht“, rief Julian.
Der Hubschrauber hob ab, als Julians Stiefel gerade nicht
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