Zersetzt - Thriller (German Edition)
du Streber, komm rein.«
Streber? Langsam betrat sie die Wohnung und sah sich die Bescherung an, die sie in einen größeren Schrecken versetzte, als es das beträchtlichste Chaos nach einem Einbruch hätte tun können. Blitzblank. Sauber. Aufgeräumt! Im Wohnzimmer lagen keine Papierschnipsel auf dem Boden, nichts stand auf dem Tisch, das Glas spiegelte, alle Bücher in den Regalen waren fein säuberlich farblich sortiert. Julia holte tief Luft, als ihr Blick auf das Familienfoto fiel, das jetzt berahmt mit einer modernen chromglänzenden Einfassung auf dem Schreibtisch stand. Felix sah Julia verdutzt an, als sie an ihm vorbei ins Schlafzimmer stürzte. Auch in diesem Raum war kein Staubkorn zu finden. Die Bettwäsche wie mit einem Lineal gerade gezogen, der Spiegel strahlte, den Stuhl zierte ein Kissen, das – wie bei Oma – eine Kerbe in der Mitte aufwies. Wie paralysiert blieb ihr Blick auf ihrem alten Teddybär haften, der mitten auf dem Bett thronte. Sie starrte in zwei braune Knopfaugen.
Julia schüttelte den Kopf . Wer hat einen Schlüssel? Das Schloss war nicht beschädigt, keine Einbruchsspuren sichtbar. Die Fenster waren geschlossen und verriegelt. Sie rannte an dem sichtlich irritierten Felix vorbei in die offene Küche und riss die Schränke auf. Sortiert. Alles fein säuberlich nach Ablaufdatum sortiert. Gestapelt. Selbst wenn ich schizophrene Züge annehmen würde - nach Ablaufdatum sortieren? Nein. Sie sah verzweifelt zu Felix, der die Welt nicht mehr verstand.
»Fehlt was?« Konsterniert beobachtete er jeden ihrer Schritte. Regungslos blieb Julia plötzlich mitten im Raum stehen. Ihr Lieblingsmöbelstück, der alte Schaukelstuhl, stand frisch gestrichen in der Ecke des Wohnzimmers. Er wartete in Grasgrün auf seine Besitzerin. Sie legte die Hände an ihre Schläfen und schloss, in der Hoffnung, dass es sich um eine Sinnestäuschung handelte, für einen Moment die Augen.
»Julia, was ist denn los, kann ich dir irgendwie helfen?«, durchbrach Felix die Stille. Julia zupfte nervös an ihrem Jackenärmel.
»Alles sauber, geputzt, geordnet und sortiert. Ich hatte schon lange keine Zeit für einen Hausputz und selbst wenn, dann wäre nicht alles so steril.«
Er legte seinen Arm um Julias Schultern, runzelte die Stirn und überlegte.
»Mmmh … wenn du der Polizei erzählst, dass du eine Anzeige aufgeben willst, weil jemand s-s-s-sauber gemacht hat, erklären die dich für verrückt.«
Julia zündete sich eine Zigarette an. Es war ihr egal, dass sie ihre eigenen Regeln damit durchbrach und in der Wohnung rauchte. In diesem Moment kümmerte es sie auch nicht, dass Felix wild fuchtelnd eines der Dachfenster aufriss, um Luft zu schnappen. Ein Scheppern an der Wohnungstür ließ den letzten tiefen Zug in Julias Hals stecken bleiben, sodass ihre Lungen dies prompt mit einem Hustenanfall quittierten. Gleich darauf ein Klirren.
»Felix, hörst du das?« Julia, deren Puls jetzt in ihrer Halsschlagader klopfte, schlich auf Zehenspitzen über den Flur an die Wohnungstür. Ein Kratzen, wie es ein Schlüssel auf Holz verursachte. Sie presste ihr Ohr an die Tür und horchte.
»Nichts.« Der Blick durch den Türspion.
»Nichts.« Ein Rascheln direkt vor der Tür. Julia betätigte den Lichtschalter für das Treppenhaus, der in ihrer Gegensprechanlage integriert war. Zaghaft blickte Julia durch das Guckloch, zuckte schlagartig zusammen, wich einen Schritt zurück und rempelte Felix, der aufgerückt war und direkt hinter ihr stand, fast um. Ein Auge hatte sie durch den Spion angeglotzt. Felix griff nach einem Stockschirm, der in der tiefen Bodenvase neben dem Eingang stand, schob Julia zur Seite und riss blitzschnell die Wohnungstür auf. Jetzt stand Julia wie gelähmt mit aufgerissenen Augen an der Tür und konnte nicht fassen, was sie da sah – nichts.
»Felix, du hast es doch auch gehört, oder?« Julia zweifelte in höchstem Maße an ihrem Verstand.
»Also, vielleicht ein Rascheln oder so, aber das hätte auch von einem Nachbarn kommen können, der gerade durch das Treppenhaus gegangen ist«, bemerkte Felix unsicher, nachdem er vom Treppenabsatz aus den Aufgang in Augenschein genommen hatte.
Der Klingelton des Telefons war auf höchste Stufe gestellt und Julia erschrak beim ersten Laut. Sie nahm den Hörer, dessen lautstarker Sound ein Vibrieren in ihrer Hand verursachte, und zögerte, den Anruf entgegenzunehmen. Nach dem Einbruch macht sich jemand an meiner Wohnungstür zu schaffen –
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