Zerstörte Seelen
damit rechnen, umgehend abgeschleppt zu werden. Allerdings hatte man von dort aus einen guten und ungehinderten Blick auf die gesamte Temple Street. Ihr Gebäude stand in der Mitte einer langen Reihe hundertjähriger Stadthäuser aus Backstein. Falls ein Beobachter hinter dem Steuer des Geländewagens saß, konnte er sie jederzeit kommen und gehen sehen und überprüfen, ob sie ihr Versprechen, artig zu sein, auch hielt.
Der Wind blies ihr eisig in den Rücken, die Kälte der Pflastersteine biss in ihre nackten Fußsohlen. Doch nach der langen Zeit in einem geschlossenen Gebäude bekam sie gar nicht genug von der frischen Herbstluft. Allerdings stand sie schon viel zu lange hier draußen, und die paar Nachtschwärmer, die noch die Straße entlanggingen, starrten sie an und machten einen Bogen um sie. In dem blutigen Krankenhausanzug, mit den bandagierten Armen voller Blutergüsse, den nackten Füßen und dem zerzausten Haar sah sie aus, als wäre sie aus einer Irrenanstalt ausgebrochen.
Darby ging zur Eingangstreppe. Es war Zeit, mit der Suche nach Mark Rizzo zu beginnen. Und wenn sie ihn fand, würde er ihr erklären müssen, was er seinem Sohn angetan hatte.
Die Eingangshalle war leer, doch in der Erdgeschosswohnung war offenbar eine Party in vollem Gang. Hinter der Tür wummerte laute Musik, und sie hörte die Collegekids lachen. Der Besitzer der Wohnung lebte in Chicago und vermietete das Apartment für eine schwindelerregende Summe an Eltern, für die Geld keine große Rolle spielte und die glaubten, Beacon Hill sei für ihre studierenden Kinder ein sichererer Ort als Allston oder Brighton oder irgendein Viertel in der Innenstadt.
Während sie die lange gewundene Treppe hinaufjoggte, dachte Darby an das FBI . Falls die Feds sie tatsächlich überwachten, hatten sie vielleicht auch ihre Wohnung verwanzt oder sogar Minikameras installiert. Einen Gerichtsbeschluss brauchte das FBI dafür nicht. Der Patriot Act bot für derlei Aktionen ausreichend Schlupflöcher.
Darby schaltete die Alarmanlage aus, ließ ihre Post auf die Arbeitsplatte in der Küche fallen, ging ins Bad und schloss die Tür. Sie gönnte sich eine herrlich lange und – wie sie hoffte – unbeobachtete Dusche.
Unter dem Wasserstrahl überlegte sie, was sie mit den zusammengefalteten Blättern anstellen sollte, die nun zwischen den Krankenhausklamotten auf dem Boden lagen.
Die Fingerabdrücke auf den Papieren zu sichern war ein Kinderspiel. Man sprühte sie einfach mit Ninhydrin ein, erhitzte sie vielleicht noch, um ein klareres Bild zu erhalten, und übertrug die Abdrücke dann auf eine Karte.
Das eigentliche Problem war, an die Vergleichsdaten heranzukommen. Um Zugang zum IAFIS zu erhalten, musste man seinen Namen und ein Passwort eingeben. Seit ihrer unfreiwilligen Suspendierung hatte sie keinen Fuß in das Gebäude der Bostoner Polizeibehörde gesetzt und wusste nicht, ob Leland oder ein anderes hohes Tier – vielleicht sogar der kommissarische Polizeipräsident selbst – ihren Zugang zum IAFIS und zu anderen Datensammlungen genauso blockiert hatte wie ihren Zugang zum Labor.
Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
Darby schlüpfte in frische Jeans, in ein weißes, ärmelloses Top und in ihre heißgeliebten dunkelbraunen Harness Boots. Sie nahm ein kariertes Flanellhemd aus dem Kleiderschrank, zog es sich über und knöpfte es auf dem Weg in die Küche zu. Das noch feuchte Haar floss ihr über die Schultern.
Das Küchenfenster und die drei Fenster an der Wand des großen Areals, das ihr als Ess- und Wohnbereich diente, gingen auf die Temple Street hinaus. Darby goss sich einen großzügigen Schluck Midleton Irish Whiskey in ein Glas, lehnte sich an die Arbeitsplatte und sah zum mittleren Fenster hinaus.
Der Geländewagen stand noch immer an derselben Stelle.
Darbys Telefon befand sich am Ende der Arbeitsplatte in der Nähe des Fensters. Das rote Licht des Anrufbeantworters blinkte. Sie ging hin, sah sich den Apparat an, berührte ihn aber, für den Fall, dass man sie beobachtete, nicht. Darby nippte an ihrem Drink.
Das Telefon war in die untere Steckdose eingesteckt, nicht wie üblich in die obere. Und sie entdeckte gelbe Farbpartikel auf ihrer weißen Arbeitsplatte. Die Farbe musste abgegangen sein, als die Spritzschutzplatte von der Wand gelöst worden war. Die von ihr beauftragten Maler hatten gepfuscht.
Genau wie die Person, die die Platte entfernt hatte. Die Feds hätten einen Profi anheuern sollen.
Darby
Weitere Kostenlose Bücher