Zerteufelter Vers (German Edition)
hatte wirklich geglaubt, er tue ihr etwas an und sie war voll und ganz in die Falle getappt. So naiv konnte auch nur sie sein! Aber jetzt stand sie da; allein vor einem Baum mit einem Tau in der Hand, das Gloria wie einen Fremdkörper umfasste.
Diesem Kerl war sie einfach nicht gewachsen! Hoffentlich sah er ihr nicht heimlich dabei zu, wie sie versuchte, den Baum hinaufzukommen. Sicherheitshalber ging Gloria ein paar Schritte in die Richtung, in die er verschwunden war – aber nichts, er war weg. Sie lief wieder zurück. Ihr Blick schweifte nach oben und musterte den alten Baum. Gloria umfasste mit festem Griff das Seil und versuchte, die Füßen gegen den Stamm zu stützen. Doch es funktionierte nicht so gut, wie sie dachte. Ein nächster Versuch – dieses Mal umklammerten ihre Schuhe das Seil und sie probierte, sich am Tau hochzuziehen. Das ging auch ganz gut, aber nach ein paar Metern sah es schon verdächtig hoch aus. – Sehr hoch sogar! Der Ast, an dem das Seil festgebunden war, ragte nur noch einen Meter über ihr. Doch wie sollte sie den letzten Ruck nach oben schaffen? Glorias Kraft schwand. Der Baumstamm war zu dick, als dass sie ihn hätte umgreifen können und es gab auch keine geeignete Stelle, gegen die sie ihre Füße hätte stemmen können. Es half nichts. Entweder Gloria würde gleich abrutschen oder sie zog sich per Klimmzug an dem Ast hoch. Da baumelte sie – verdammt, war das hoch! Mit kläglich letzter Kraft wickelte sich Gloria schließlich um den Stamm und bugsierte sich auf das in der stabilen Gabelung eingehauene Brett. So viel dazu – ihre Kletteraktion gab definitiv Abzüge in der B-Note! Gloria war fix und fertig. Sie fragte sich inständig, ob sie es bei einem nächsten Versuch auch schaffte. Dabei war sie sonst gar nicht so schwächlich. Hätte sie hingegen die Nacht unten im Gras verbracht und Kirt tauchte morgen in einer Herrgottsfrühe auf, wäre sie vor Scham im Erdboden versunken!
Gloria setzte sich auf das Brett. Es war nicht bequemer als die Parkbank, aber daran konnte sie ja etwas ändern: Mit Sicherheit ließen sich irgendwoher Sitzkissen organisieren, um diese als Matratze zu verwenden. Hier konnte Gloria jedenfalls nicht hinunterfallen, denn das Holzbrett besaß eine Art Sicherheitswand und erinnerte an drei von vier Seiten an eine Kiste. Mit dem Kopf würde sie sich zur geschlossenen Richtung legen. Gloria spähte nach unten: Warum wirkten Höhen aus dieser Perspektive immer größer als von unten? Aber zumindest hatte sie es geschafft und war hinaufgekommen. Die Blätter raschelten im Wind und Glorias Blick wanderte empor. Ein riesiges Blättermeer formte ein schützendes Dach. Über einen möglichen Regenschauer musste sie sich hier keine Sorgen machen.
Die Anspannung fiel allmählich von Gloria ab. Sie zog die Knie an und umfasste diese mit den Armen. Jetzt besaß sie einen sicheren Schlafplatz! Bis auf das Zwitschern der Vögel war nichts zu hören und Gloria vergewisserte sich mit suchendem Blick rundherum, allein zu sein. Sie dachte nach: Das Buch, die arme Frau, der fürchterliche Unfall… und zuletzt noch dieser Kirt – Gloria wusste nicht, was sie von diesem Kerl halten sollte. Seit sie weggelaufen war, hatte sich viel verändert. Ob das Buch ihr genauso die Todesdaten der Menschen in Weimar verraten hätte? Das wäre noch viel schlimmer gewesen: Am Ende hätte sie vielleicht noch jemanden der Auserkorenen gekannt! Gloria wollte gar nicht daran denken. So wie jetzt, war es schon schlimm genug. ‹Willst du´s riskieren so lies, so wird dir gegeben.› Das waren die Zeilen, die sie so schnell gelesen hatte. Ihr wurde das Wissen über einen dunklen Teil der Zukunft gegeben. Aber es fühlte sich an wie ein Fluch, ganz nach dem Motto: Friss oder stirb!
Was half es, einen Schimmer von der Zukunft zu besitzen, wenn man eh nichts ändern konnte? Sollte man daraus lernen? – Wenn ja, was? Oder sollte sie diese Menschen beschützen? – Wenn ja, wie? Gloria schob die Gedanken über das Buch beiseite. Stattdessen dachte sie an ihren Vater und beschloss, sich morgen wieder bei ihm zu melden. Dieses Mal würde sie ihn anrufen. Wie unfair Gloria sich ihm gegenüber benahm… Verstehen konnte ihr Vater sie bestimmt nicht, aber Gloria verstand sich ja selbst kaum. Hoffentlich würde er ihr noch in die Augen sehen, wenn sie wieder nach Hause kam. Aber auf der anderen Seite wollte sie jetzt – genau in diesem Moment – am liebsten nicht so schnell wieder zurück nach
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