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Zicke

Zicke

Titel: Zicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Zarr
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für leichte Beute gehalten, das hast du. Stimmt’s?«
    »Nein, ich …« Er zuckte die Achseln. »Was soll ich denn deiner Meinung nach sagen?«
    Eine Böe kam über dem Meer auf und alles geriet in Bewegung, die Bäume und die Stromleitungen und das Dünengras. Der Geruch nach Gras und Tang hüllte uns ein. Das alles plus die Geräusche der Wellen unten am Strand und die eines Autos, das auf dem Highway vorüberfuhr, versetzten mich augenblicklich wieder zurück in jenes Jahr, in dem ich ein paar Mal in der Woche mit Tommy zusammen gewesen und anschließend immer wieder nach Hause gegangen war. Mom war arbeiten gewesen und Dad hatte ferngesehen oder die Stellenanzeigen in der Zeitung gewälzt. Oder mit seiner Jobvermittlerin beim Arbeitsamt telefoniert, sie angeschrien, ihr zugebrüllt, er sei neunzehn Jahre bei
National Paper
gewesen und die wären |159| ihm was schuldig, gottverdammt, was
schuldig
! Oder er hatte im Bett gelegen, geschlafen oder bloß an die Decke gestarrt, und das Haus war still gewesen, still und zornig, und ich war dann geradewegs in mein Zimmer gegangen und hatte mir eingeredet, dass dies alles vorübergehen würde, er recht bald einen neuen Job bekäme und Mom öfter zu Hause wäre – und mich dann jemand fragen würde, wo ich denn gewesen sei.
    Ich sah Tommy an, seinen schlanken Körper und die harten kleinen Muskeln an seinen Armen, die Narbe an seiner Wange – ja doch, er hatte mir etwas bedeutet! Als es angefangen hatte mit uns, die Art, wie er mich gewollt und wie er mir zugehört hatte, und das, was ich ihm gegeben hatte, was wir einander gegeben hatten, das
bedeutete
etwas.
    »Weshalb hast du es überall rumerzählt, Tommy? Du hast aus allem einen Riesenwitz gemacht, nichts als eine wahnsinnig komische Geschichte, verflucht noch mal!«, sagte ich wütend. »Als ob nichts wichtig wäre.«
    Er wandte sich von mir ab und blickte gedankenverloren zum Strand.
    Ich putzte mir die Nase. »Es hätte nie so kommen dürfen.«
    Er ging auf seine Seite des Wagens und stieg ein. Ich überquerte den Parkplatz und vergoss dabei die restlichen Tränen, erschöpft und ein wenig erleichtert. Ich hatte das Gefühl, als ob ich mein ganzes Leben darauf gewartet hätte, Tommy all das zu sagen.
    |160| Er startete den Wagen und setzte zurück, als wollte er wegfahren, rollte dann aber zu mir herüber. »Steigst du ein?«
    Die Fahrt fühlte sich schnell und vertraut an, wie damals, wenn er mich eilends nach Hause gebracht hatte, mit runtergekurbelten Fenstern, um den Geruch von Dope aus dem Wagen zu kriegen.
    Als wir bereits in der Nähe unseres Hauses waren, trottete ein Waschbär vor uns über die Straße. Wir fluchten beide, und Tommy trat auf die Bremse. Der Waschbär sah uns gleichmütig an und tappte davon in irgendeinen Garten. Tommy fuhr jetzt langsamer.
    Und dann das Haus: die blättrige Farbe, der verwucherte Rasen, die trostlosen Blumentöpfe. Der Türrahmen, gegen den Tommy sich beim ersten Mal gelehnt hatte, als er mich aus meinem alten Leben herausgepflückt und mich in ein neues gefahren hatte.
    Ich ließ die Hand über den Türgriff gleiten. Ich hatte dieses Leben nie wirklich verlassen – das war mir jetzt klar. Es war nur eine Pause gewesen.
    Das hier jedoch war ein Schlusspunkt. Tommy war nicht für mich gemacht. Okay, es war nett, dass er mich immer noch wollte, dass ich immer noch diese Wirkung auf ihn hatte. Aber er war nicht gerade wählerisch.
    Ich öffnete die Wagentür.
    Tommy hielt mich zurück. »Deanna? Wenn ich wirklich all das getan habe … Ich meine, ich weiß, dass ich es getan habe, aber wenn all das wahr ist, was |161| du empfunden hast und alles … und, nun ja, wie ich darüber geredet habe, dann tut es mir leid.« Er starrte geradeaus und ließ die Hände um das Steuer herumgleiten.
    »Mir auch.«

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    Ich erwachte in einem leeren Haus, was mich normalerweise nicht gekümmert hätte. Normalerweise war es mir am liebsten, den Tag auf diese Weise zu beginnen.
    Aber nichts war mehr normal.
     
    Mit Tommy ist es aus.
    Ich fühle mich nicht anders.
    Denn: Was nun?
    Mein Leben ist ein Fragezeichen.
     
    Ich starrte auf das Blatt. Vielleicht sollte ich zu dem Mädchen auf den Wellen zurückkehren. Zumindest hatte ich eine gewisse Macht über
sein
Leben. Wenn ich einmal tief Luft holte, die Bettdecke beiseitewarf und sagte: »Heute beginne ich neu!«, vielleicht änderten die Dinge sich dann. Wie in einem Musical: La, la, la, ich werde nie mehr sein wie

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