Zieh dich aus, du alte Hippe
Kinder später verwildern, denn Kinderschwester Gertrud ist nicht gut zu ihnen. Wenn sie ihr Essen nicht mögen, bestreicht sie ihre Augenlider mit Senf oder ähnlichem. Es ist schlimm. Die Kinder können sich in dem Alter kaum wehren. Außer: sie formieren sich zu einem größeren Trupp. Das wollen sie morgen machen. Sie wollen Kinderschwester Gertrud kaputthauen, und zwar mit ihrem eigenen Stock, mit dem sie sonst immer Prügel beziehen, wenn sie in die Hose machen. Doch Kinderschwester Gertrud kommt am nächsten Tag nicht zur Arbeit. Sie ist ermordet worden! Als der Kommissar diese Nachricht bekommt, ist er wieder ganz der Alte, auf seiner Stirn ziehen sich lüsterne Falten zusammen. Er ballt seine Rechte zur Faust und schlägt einmal schwer auf den Schreibtisch. Bumm! Jetzt reicht's ihm! Er will heute noch das Monster schnappen. Und wenn es wer weiß was kosten würde. Er springt auf, um mit seinem Auto und seinem Team am Tatort anzurücken. Mit wehenden Haaren zischt er wie eine Rakete durch das Präsidium und trommelt seine Leute zusammen. Die Nachricht von der ermordeten Kinderschwester Gertrud hat ihm ein Anruf gebracht. Die Stimme klang aufgeregt, und der Anrufer stotterte. Dabei wollte er aber seinen Namen nicht nennen. Kommissar Schneider dachte darüber nach, daß es immer das gleiche ist, die Leute wollen sich doch immer aus allem raushalten. So, als hätten sie Angst vor etwas Unheimlichen, etwas Überdimensionalen. Sein Wagen stiebt Feuer aus dem Auspuff. Er rast durch die Stadt und kommt als erster an. So hat er die Möglichkeit, noch vor den Fotografen die Leiche zu untersuchen. Er hat sie vor sich liegen, der Kopf der Leiche ist puterrot angelaufen, mehr blau sogar. Die Augen weisen in eine bestimmte Richtung. Der Kommissar sucht die Gegend ab, mit besonderem Augenmerk auf die Stelle gerichtet, wo Schwester Gertrud hinschielt. Was ist denn da? Er geht gebückt den Weg entlang, um ganz nahe am Boden zu sein. Nur dort kann es Spuren geben, weil oberhalb des Weges die Bäume erst vor kurzem gestutzt worden waren. Da fällt ihm folgendes auf: an einem Ast, der, im Gegensatz zu den anderen Ästen, etwas länger über dem Weg hängt, baumelt ein Haar. Ja, ein Menschenhaar, der Kommissar hat es mit seinem Adlerauge sehr schnell ausgemacht. Er nimmt es sachte vom Ast und schaut es sich mit seiner Polizeilupe genauer an. Als er die in entgegengesetzter Richtung verlaufenden Riefen in der Haarschutzschicht sieht, die das menschliche Haupthaar ummanteln, ist er überzeugt davon, daß es sich um ein Haar des Täters handelt, denn bei einem Kampf um Leben und Tod wird normalerweise auch das Haar in Mitleidenschaft gezogen. Hier kann es sich deshalb nur um ein Haar des Täters handeln, weil Schwester Gertrud keine Haare mehr auf dem Kopf hat. Oder sollte sie zusätzlich von dem Täter noch geschoren worden sein? Kommissar Schneider wird es in Erfahrung bringen. Man braucht nur im Kindergarten nachzufragen, ob die Kinderschwester Gertrud Glatze hatte. Da treffen auch schon die unvermeidlichen Pressefritzen ein. Kommissar Schneider nimmt sein neues Indiz mit und verläßt den Fundort der Leiche. Sein nächstes Ziel: das arabische Museum. Er parkt den Wagen längs zur Querseite des riesigen Gebäudekomplexes. Das Wagendach schimmert befremdend in der Sonne. Es dampft noch von dem Waldnebel. Nur drei Mark kostet der Eintritt in die frühherodische Ausstellung. Die Frau an der Kasse sieht nett aus, sie ist zirka fünfzig Jahre alt. Der Kommissar zwinkert ihr zu. »Gibt es eine Führung?« - »Nein, Sie müssen schon selbst zurechtkommen! Hier geht's los.« Die Frau zeigt auf den linken Eingang. Mit großen Schritten durchmißt der Kommissar den ersten Raum, hier ist nicht das zu finden, was er sucht. Auch im zweiten Zimmer ist nichts. Bald hat er die ganze untere Etage durch. Irgendwo muß es doch die Höhlenmalerei geben, wo man deutlich erkennen kann, daß der Künstler eine bestimmte Kratztechnik verwendet hat und nicht, wie bei den üblichen Wandmalereien, Stöcke mit selbstgekochter Farbe, die eingerächert wird. Und schon steht er vor dem Bildnis. Eine Kordel trennt den Zuschauerraum von dem Exponat ab. Der Kommissar dreht sich einmal um, bevor er einen Haken löst, um die Kordel anzuheben und drunterherzuklettern. Er fährt mit seinen Händen über das Kunstwerk und hält an einer bestimmten Stelle inne. Noch weiß er nicht, daß er beobachtet wird.
Unter der Deckenbeleuchtung ist eine moderne Sucherkamera
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