Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ziemlich beste Freunde

Ziemlich beste Freunde

Titel: Ziemlich beste Freunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Pozzo di Borgo
Vom Netzwerk:
rechte Handgelenk, blockiere die Hand, indem ich sie unter den Sitz klemme, beuge mich vor, und der Schirm stürzt immer schneller in die Tiefe. Jetzt steht er senkrecht, ich kreise in der Waagrechten darum herum. Zusammen mit dem Schirm sause ich in einem Höllentempo nach unten. Tausend, zweitausend, dreitausend schwindelerregende Meter im kontrollierten Fall. Einige Hundert Meter über dem Landeplatz löse ich die Bremse wieder.
    Dann stehe ich in meinem Sitz auf, greife mit beiden Händen nach allen Leinen außer den beiden mittleren. Ich setze mich wieder, klappe das Segel an beiden Seiten ein; nur die mittleren Kammern bleiben mit Luft gefüllt.
    Ich sinke mit rasender Geschwindigkeit auf den Landeplatz zu. In zwanzig Meter Höhe lasse ich die Leinen los und öffne den Schirm, indem ich die Bremse ziehe. Wenige Zentimeter über dem Boden hat er sich wieder gefüllt und ich komme so sanft auf wie ein Schmetterling auf seiner Blüte.
    Ich lebe in drei Dimensionen, engelsgleich.
     
    Eines Tages lande ich ungebremst zwischen dem grünen Gras und der Hölle.

Kopflose Flüge
    Ich liege bäuchlings am Hang, fühle mich eigentlich nur ein bisschen benommen, offenbar bin ich ohnmächtig geworden. Max und Yves, meine Gleitschirmfreunde, haben ihren Schirm neben meinen gelegt. Doktor Max nimmt die Dinge in die Hand: Er gräbt ein Loch vor meinem Gesicht, damit ich Luft bekomme, und alarmiert die Funkstation. Warum berühren sie mich denn nicht? Ich spreche mit ihnen, meine Atmung ist ruhig, was sollen also die ständigen Fragen, ob ich atmen kann? Ein Grashalm kitzelt mich in der Nase, ich muss niesen, lachen. Max regt sich am Funkgerät auf. Er verlangt einen Hubschrauber aus Grenoble, nicht aus Chambéry, obwohl das näher wäre. Yves spricht zu mir wie zu einem kleinen Kind, er scheint zu zittern. Mir fällt auf, dass ich mich nicht mehr bewegen kann!
     
    Ich werde wieder ohnmächtig. Ein Lärm weckt mich auf. Es ist der Hubschrauber, der im starken Wind versucht, die Position zu halten. Ein Arzt und ein Feuerwehrmann springen heraus, der Helikopter steigt wieder auf und schwebt über uns in der Luft. Ich spüre nichts. Mit routinierten Handgriffen legen sie mich rücklings auf eine Trage, ich sehe den Himmel und den Hubschrauber über mir. Mich nehmen sie mit, alle anderen, auch meine Freunde, bleiben zurück. Ich rufe Yves herbei, mir ist klar, dass etwas nicht stimmt. Ich bitte ihn, sofort Béatrice anzurufen und ihr zu sagen, dass es nicht schlimm ist, dass ich sie liebe, dass sie mein Ein und Alles ist, mein Licht. »Ruf meine Eltern an, sag ihnen, sie sollen lieb zu ihr sein und sie nicht allein lassen.« Seit zehn Jahren schimpfen sie aufs Gleitschirmfliegen, einmal haben sie sogar gedroht, sie würden sich nicht um die Kinder kümmern, falls mir etwas zustoßen sollte. Béatrice bricht in Tränen aus, ich weiß, dass ich sie trösten sollte, doch ich fühle mich schuldig. Ich weine vor Yves, bitte ihn, er möge meinen Eltern Folgendes ausrichten: »Kümmert euch um meine Familie.« Yves beruhigt mich, ich gebe ihm die Telefonnummer meiner Sekretärin, damit sie meine Termine in den nächsten Tagen absagt, den von diesem Abend in Italien, den morgigen in der Schweiz, den von übermorgen in Deutschland.
     
    Ein Seil wird vom Hubschrauber heruntergeworfen. Bevor man mich hochzieht, entschuldige ich mich bei Yves, weil ich ihm den Tag verdorben habe. Ich baumle in der Luft, der Copilot beugt sich vor, greift nach der Trage und hievt mich an Bord. In der Kanzel kann man sein eigenes Wort nicht verstehen. Sie setzen mir eine Sauerstoffmaske auf.
     
    In Grenoble landen wir auf dem Dach des Krankenhauses. Im Laufschritt bringt man mich in die Anästhesie, Menschen beugen sich über mich, wir reden miteinander. Ein Mann, es muss wohl der Chirurg sein, unterbricht uns: »Schluss mit dem Geplauder, es eilt.« Es sind die letzten Worte, die ich für lange Zeit höre.
     
    Im Nachhinein erfahre ich, dass es eine schwierige Operation war. Béatrice und meine Eltern sind wenige Stunden später im Krankenhaus, der Chirurg nimmt sie in Empfang. »Seine Überlebenschance steht bei eins zu fünf.«
     
    Nach der Operation verweigert meine Atmung den Dienst. Ich werde für einen Monat ins künstliche Koma versetzt, damit mein Körper das Beatmungsgerät toleriert.
     
    Den ganzen Monat lang bleibt Béatrice an meiner Seite, erzählt mir Geschichten – und nervt damit die Chirurgen, die das für überflüssig halten.

Weitere Kostenlose Bücher