Ziemlich beste Freunde
dreifache Größe auf. Als er damit fertig war, bat er Françoise um eine dünne Schnur, band die Öffnung bei der Pfote zu und drosch verbissen auf das Schaf ein. Das dumpfe Geräusch hallte von den Wänden des Turms wider. Nachdem er das Tier »weichgeklopft« hatte, nahm Abdel wieder sein Messer zur Hand, zog ihm das Fell ab und zerlegte es. Es dauerte nicht länger als zehn Minuten. Nun musste es nur noch ausgenommen, die Innereien eingesammelt und mit dem Gemüse gekocht werden – das ist es, was heute Abend diesen strengen Geruch in meinem Zimmer verbreitet.
17 Jean-Marie Gustave Le Clézio, La quarantaine , Gallimard 1995. In deutscher Übersetzung von Uli Wittmann unter dem Titel Ein Ort fernab der Welt 1998 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.
Die Blutinseln
Seit fast drei Tagen liege ich in unveränderter Position auf dem Rücken und endlich lässt die Qual nach. Meine Augen sind geschlossen. Von fern höre ich Hammerschläge. Ich wage kaum, es zu glauben: Die Schmerzen sind weg. Um sieben Uhr rufe ich Abdel. Er erhebt sich wie ein Roboter – seit drei Tagen hat er nicht geschlafen. »Abdel, legen Sie bitte Schubert auf.« Das Atmen macht mir Mühe, aber egal, Hauptsache, die Schmerzen sind vorbei. Abdel serviert mir das Frühstück.
»Abdel, lesen Sie mir doch einen Psalm vor.« Der Herr ist gut, er weist den Leidenden einen Weg des Heils. Ich weiß nicht. Ich bin erschöpft. Ich habe Mühe, diese Worte zu begreifen, die sich ihres Sinns so sicher sind.
Die Feier beginnt am Donnerstagabend. Wir speisen und versammeln uns danach in dem riesigen Gardesaal, um dem Chor von Alata zuzuhören. Ein tiefer Schmerz liegt in dem Gesang. Arabische Klänge, hohe Töne, sehr tiefe Stimmen geben die Schwingungen der Berge wieder und die Schreie der Bussarde, die am Himmel ihre Kreise ziehen. Ich bin müde, doch ich bringe es nicht übers Herz, den Saal zu verlassen. Sie singen für mich, für Béatrice. Ich habe sie um das Salve Regina gebeten. Die Stimmen erheben sich, ich versinke in meinem Inneren. Béatrice liebte diese Musik. Sie sehen mich beim Singen direkt an, die linke Hand am Ohr, um dem Echo zu lauschen. Die Intensität meiner Gefühle erschöpft mich. Sie gehen. Ich habe kaum etwas gegessen, nicht gesprochen, nichts aufgenommen, außer dieser korsischen Polyphonie. Ein Schäfer hat sich zu mir herabgebeugt und mir die Hand geküsst. Spät in der Nacht bringt Abdel mich zu Bett. Ich zittere vor Fieber und schlafe wenig.
Zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Korsika vor sechs Tagen habe ich beschlossen, die Kinder zum Strand zu begleiten. Meine Cousine Barbara, ihr Mann Philippe und ihre sechs Kinder sind am üblichen Platz der Pozzos, einer kleinen Bucht, die wir seit dreißig Jahren mit Beschlag belegen. Barbara sitzt mit ihrer Stickerei im Schatten des Vordachs wie Granny vor zwanzig Jahren und verbringt den Nachmittag damit, ihre Schäfchen im Auge zu behalten. Ich richte mich neben ihr ein und sehe den Strand meiner Kindheit wieder.
Mein Freund François war gelähmt wie ich. Eine kleine Welle wie diese hier hatte schuld daran. Er war mit seinen Kindern und seiner Frau im Wasser. Die Kinder planschten herum. Eine Welle, kaum stärker als die anderen, warf alle um. Sie standen unter Gelächter wieder auf. Alle außer François, der mit dem Gesicht nach unten im Wasser trieb. Erst glaubten sie, er mache einen Scherz. Als sie merkten, dass er nicht mehr atmete, brachten sie ihn an den Strand. Sein erster und zweiter Halswirbel waren gebrochen. Dank des Glaubens und der Liebe seiner Familie hielt er sieben Jahre durch, ohne je sein Bett zu verlassen. Für die Ärzte war das ein Wunder. Dann ist er gestorben.
Ich hebe den Blick zum Horizont. Die Îles Sanguinaires – »die Blutinseln« – heben sich gegen den Himmel ab. Der Legende nach verdanken sie ihren Namen den Pestkranken, den »Schwarzblütigen«, die man während der vier Jahrhunderte genuesischer Herrschaft vom 15. bis zum 18. Jahrhundert dorthin verbannte. Einer anderen Erklärung nach rührt der Name daher, dass die untergehende Sonne die Inseln blutrot färbt. Ich denke an dich, Béatrice. Auf diesen Inseln hat der Todesengel die Pestkranken geholt. Sie wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ihre Asche hat sich auf diese karge, verbrannte Erde gelegt.
Barbara hebt den Kopf von ihrer Stickerei. Sie stellt die Nachfolge sicher, die Kontinuität. Alles läuft gut. »Mach dir keine Sorgen, kleiner Cousin, du wirst
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