Ziemlich beste Freunde
abgelegt hat, empfängt uns in Kutte und Sandalen im Schnee. Einige bescheidenere Autos stehen bereits auf dem Parkplatz. Die Nonne wirkt überrascht angesichts des Autos und seiner Insassen. Abdel klappt den Rollstuhl auf und hebt mich aus dem Sitz. Ein kleiner Moment der Panik seitens der Ordensschwester, als ich von Spasmen geschüttelt werde. Mit Pilgern wie uns hatte die Oberin noch nie zu tun. Sie verkündet die strikten Regeln, die während des Aufenthalts einzuhalten sind: das Schweigen, das Stockwerk, das den Frauen vorbehalten ist – Abdel zwinkert mir zu! –, der Tagesablauf. In Abdels Zimmer hängt ein Plakat »Hier wohnt Gott«. »Das war ja klar«, kommentiert er. Das lässt nicht unbedingt hoffen!
Der Tagesablauf ist spartanisch: Aufstehen um 7 (das heißt für uns um 5 Uhr 30), Licht aus um 22 Uhr 30. Abdel langweilt sich. Er weiß nicht, was er mit sich anfangen soll in dieser Abgeschiedenheit, dem meterhohen Schnee und dem zähen Nebel, der sich während unseres gesamten Aufenthalts nicht auflöst. Er wagt nicht, sich allzu weit zu entfernen, für den Fall, dass ich einen Schwächeanfall habe, was auch mehrmals passiert. Tagsüber hängt er herum, nachts treibt er sein Unwesen. Weder verschlossene Türen noch strikte Regeln sind ein Hindernis für ihn.
Wir sind etwa fünfzig »Patienten«. Schon beim ersten Treffen wird mir klar, dass diese Männer und Frauen jeden Alters vom Leben schwer gezeichnet sind. Hinter ihrer »normalen« Erscheinung verbergen sich Tragödien, die die meisten schon seit ihrer Kindheit mit sich herumschleppen: Inzest, Pädophilie – manchmal war es der Pfarrer ihrer Gemeinde –, Vergewaltigungen usw. Ich habe in Tränen aufgelöste Rentner gesehen: Fünfzig Jahre haben sie gebraucht, um sich ihr Leid einzugestehen. Das allgemeine Mitgefühl frappiert mich. Sie leiden nicht körperlich, sie leiden darunter, mit ihren Geheimnissen leben zu müssen. Wir sind hier unter uns, lauter Verfolgte, es genügt, dass einer beichtet, und alle anderen packen ebenfalls aus. Jetzt verstehe ich auch, weshalb überall in dem großen Saal Kleenex-Schachteln herumstehen: Das sind die Hostien der Psychotherapeuten.
Ich liege in meinem unbequemen Sessel, bedeckt von einem weißen Laken, das Abdel über mir ausgebreitet hat (er gesteht mir, dass ihn ein Bild in seinem Zimmer beeindruckt hat, auf dem Jesus in seinem Leintuch ins Grab gelegt wird), und bin der Einzige, der keine Tränen über sein Schicksal vergießt. Unter körperlichen Schmerzen und der Abwesenheit eines geliebten Menschen zu leiden ist ein Witz im Vergleich zu all den Horrorgeschichten, die hier erzählt werden. Eingeschüchtert von meiner Lähmung, dem weißen Laken, meinem Schweigen, wagen die anderen nicht, sich mir zu nähern. Nach und nach kommen sie dann doch, vor allem die Frauen, und vertrauen sich mir an: Ich bin verfügbar, man weiß, wo ich mich herumtreibe (!), ich habe alle Zeit der Welt, ich höre zu. Von Zeit zu Zeit bringe ich durch ein eingeworfenes Wort den befreienden Erzählfluss meiner Gesprächspartnerin wieder in Gang. Ich, der Psychoanalytiker, liege auf der Couch, während meine Patientinnen sich zu mir herunterbeugen und mir ihr Herz ausschütten.
Bei den Mahlzeiten, die eigentlich schweigend eingenommen werden sollen, ist unser Tisch zum begehrten Treffpunkt der Damen geworden – sowohl derer, die Abdel nachts besucht hat, als auch derer, denen ich zugehört habe. Die Oberin bestellt uns ein und bittet uns, die Hausregeln zu beachten. Vergebens! Zu den Ruhezeiten sind selten weniger als zehn Frauen in meinem Zimmer, lautes Gelächter ist an die Stelle der Gebete getreten. Die Nonnen haben unsere Gruppe längst aufgegeben und unter Spesen verbucht. Abdel scheint den hübschen Depressiven neues Leben eingehaucht zu haben; ich pflege mit einigen meiner Damen bis heute Kontakt. Eine junge Familienmutter aus Chibougamau, hoch oben in den Wäldern des Nordens, die schon zum fünften Mal im Kloster war, rührte mich besonders. Ihr Inuit-Akzent, den ich noch nie gehört hatte, trug zu ihrem Charme bei.
Diese vierzehn Tage haben mich wieder in die Welt zurückgeholt.
Auf der Rückfahrt dann mein Auftritt bei dem evangelikalen Fernsehsender in einem riesigen Eishockeystadion. Es sind über 5000 »Gläubige« da. Sie äußern lautstark ihre Zustimmung, die Talkgäste, die sie langweilen, werden gnadenlos ausgebuht. Ich darf den Ausführungen eines ehemaligen Hockeychampions lauschen,
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