Ziemlich beste Freunde
seiner Mitschüler auf die andere Seite getrieben. Danach habe ich nie mehr öffentlich gespielt. Heute spiele ich gar nicht mehr.
Granny organisiert viele Konzerte im Ballsaal, ich nehme regelmäßig in der ersten Reihe an diesen musikalischen Höhepunkten teil. Später veranstaltet sie ein Musikfestival in unserem Château de la Punta oberhalb von Ajaccio. Béatrice übernimmt die Werbung, ich klebe in ganz Korsika Plakate.
Das Schloss beherbergt ein Museum, in dem das Leben des Carlo Andrea Pozzo di Borgo dokumentiert wird. Ich erinnere mich noch an den Wärter, der die Besucher durch die prachtvollen Salons, die Bibliothek und die Privatgemächer führt. In der Bibliothek hängt auf der einen Seite ein großes Gemälde des siegreichen Carlo Andrea Pozzo di Borgo, gemalt von François Gérard, ihm gegenüber ein nicht minder großes von Jacques-Louis David, das Napoleon mit verbitterten Zügen kurz vor seinem Aufbruch nach Elba zeigt. Immer beendet der Wärter die Führung mit den folgenden Worten, die er mit starkem korsischem Akzent ausspricht: »Die Toiletten stammen auch noch aus dieser Zeit. Und vergessen Sie den Führer nicht!«
Kein Pozzo hat je in diesem Schloss gelebt. Einer meiner Vorfahren ließ es erbauen, um seine Frau auf die Insel zu locken. Dafür kaufte er die Steine des Pavillons von Maria de’ Medici, der auf dem Gelände der Tuilerien stand, bis er bei der Pariser Kommune im Jahr 1871 einem Brand zum Opfer fiel.
Nach einem kurzen Aufenthalt in Ajaccio und einer Nacht im Schloss weigert sich die Gattin allerdings kategorisch, die Insel je wieder zu betreten.
Großvater Joe restauriert lieber einen zerfallenen Genueserturm etwa zweihundert Meter oberhalb des Schlosses, im alten Dorf Pozzo di Borgo. Zusammen mit Granny hält er sich gern im Turm auf und sinniert über die Vergänglichkeit nach: Vom Turm aus sieht man am Berghang die Kapelle, in der die gesamte Familie begraben liegt. In der auch Granny, die Herzogin Pozzo di Borgo und treue Ehefrau von Joe, beerdigt werden wird. Wie auch ich an der Seite von Béatrice dort meine letzte Ruhestätte finden werde.
Mein Vater macht sich schon sehr früh ein festes Bild von seinen Kindern. Obwohl er im Grunde ein gütiger Mensch ist, bringt er seine Urteile schonungslos zum Ausdruck. Er macht nicht viele Worte: »Reynier ist fürs Lernen nicht geschaffen.« Er wird als Internatsschüler an die École des Roches geschickt, die einzige Schule in ganz Frankreich, die dem angelsächsischen Modell folgt. Dort erziehen ältere Schüler die jüngeren zur Selbständigkeit. Sport und andere praktische Fächer spielen eine zentrale Rolle. Reynier verbucht mäßige Lernerfolge, begeistert sich nie für irgendeine Sportart, entdeckt jedoch seine Leidenschaft fürs Zeichnen, die er von unserer Mutter geerbt hat. Alain folgt Reynier an die Schule, »um das Beste daraus zu machen«. Mein Vater war sich lange Zeit nicht über die Intelligenz meines äußerst wortkargen Bruders im Klaren. Ich hingegen soll in die Fußstapfen meines Vaters und Großvaters treten und dieselbe schulische Laufbahn einschlagen wie sie, weil ich »von den dreien am wenigsten dämlich« bin. Als ich acht Jahre alt bin, fahre ich mit ihm nach Paris: Ich bestehe die Aufnahmeprüfung fürs Lycée Montaigne . Als die Ergebnisse bekanntgegeben werden, hält mein Vater mich an der Hand und sucht unseren Namen auf der Liste. »Gut« lautet sein einziger Kommentar zu meiner Aufnahme am Lycée. So verlasse ich meine Familie und sehe sie nur noch in den Ferien.
Éliane de Compiègne, die Schwester meines Vaters, ihr Mann Philippe und ihre drei Kinder leben im Pariser Stadthaus der Familie. Am Wochenende und donnerstagnachmittags nimmt meine Tante mich auf. Dann steige ich beim Jardin du Luxembourg in den Bus. Ich stelle mich immer hinten auf die Plattform. Es ist die schönste Entspannung, die es gibt: Die Straßen ziehen in der Wärme und den Abgasen der Auspuffrohre an mir vorbei, der Busschaffner lehnt lässig am Geländer, die Mütze in den Nacken geschoben, die Hand am Halteknopf. Bei den Compiègnes finde ich mein zweites Zuhause. Sie bringen mich unterm Dach unter, im Trockenraum. Mein Bett wird aus einem Schrank herausgeklappt. Ich lerne ein anderes Frankreich kennen.
Philippe de Compiègne hätte zum Umfeld des großen Feldherrn Bertrand du Guesclin gehören können, seine familiären Wurzeln reichen jedenfalls in diese Zeit zurück. Er ist ein wahrer Krieger und ein großer
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