Zigeunerstern: Roman (German Edition)
keineswegs ein kleiner Junge war. Wenn ich richtig rechne, muss er so an die hundert Jahre alt gewesen sein, und das galt vor Urzeiten denn doch als ein recht respektables Seniorenalter. Sogar heute noch ist man dann schon einigermaßen über die besten Jahre hinaus, auch wenn es uns heute die exzellenten, leichterhältlichen Ersatzteile, die sogenannten Remakes, ein wenig erschweren, genau zu bestimmen, wann exakt wir Menschen auf dem Höhepunkt unseres Lebens sind.
Aber für mich war und blieb Shandor eben stets eine Rotznase, ein kleiner Scheißer – und darüber hinaus … ein nichtswürdiger hinterhältiger Schuft. Und das ist ein verflucht hartes Urteil, wenn man das von seinem eigenen erstgeborenen Sohn sagen muss. O ja, und wie ich das weiß!
Dann hielt ich ihm eine dreiminütige Non-Stopp-Standpauke über Gesetze und Bräuche, über das Königtum und Sohnespflichten, und er war dermaßen betäubt, dass er mir ausnahmsweise einmal wortlos und ohne Widerrede zuhörte. Anfangs war er erschrocken und zornig, dann beunruhigt und zornig, dann verärgert und zornig, und dann wich die Verärgerung aus seinem Gesicht, und ich merkte, wie sich ein fuchsschlauer Ausdruck dort breitmachte. Ich konnte jede Gefühlsregung ablesen, ganz so als sendete er Funkfeuerzeichen. Shandor mag ja gefährlich sein, doch wirklich intelligent war er noch nie. Das bildete er sich nur stets ein. Heutzutage, wo wir alle solch ein langes Leben haben, findest du Pseudoweisheit an allen Ecken und Enden. Aber es wird eben keiner zum Weisen, nur weil er sehr lange gelebt hat. Du häufst dir ein Gripspotenzial an, und dann kommt der Punkt, an dem das einfach aufhört, und oft beginnt dann sogar der Umkehrprozess, der Abbau.
(Außer mir geht das allen so. Ich bin auch da wie immer die Ausnahme. Ach, ihr glaubt, ich mache mir was vor? Na gut, dann mache ich mir halt etwas vor. Aber versucht es mal, mich zu verarschen, weil ihr meint, dass ich senil und vertrottelt bin. Dann werdet ihr es schon merken.)
Ich hielt inne, um endlich wieder Luft zu holen, und er sagte: »Bist du zu Ende?«
»Mehr oder weniger. Ich werde eine Versammlung der Krisatora einberufen, bei der du abgesetzt werden wirst und ich wieder inthronisiert werde. Ich wollte dir nur freundlicherweise vorher darüber Bescheid sagen.«
Er reagierte nicht darauf. Ja, er wirkte nicht einmal ein bisschen irritiert. Denn jetzt versuchte er wirklich schlau zu sein.
»Nun, hast du nichts dazu zu sagen?«, fragte ich.
»Ich habe eine Menge zu sagen.«
»Na, dann los!«
Da saß er und schaute mich an. Ich sah mein eigenes Gesicht mir entgegenstarren, nur dass es dunkel, düster und freudlos wirkte, mein Gesicht, nur eben leergebrannt und ohne das wahre Wesen meiner Seele.
Nach einer Weile sagte er, sehr leise, doch mit einem wirklich hässlichen drohenden Unterton: »Ich sage dir, dass du ein verrückter alter Narr bist. Ich sage, wenn ich mir noch mehr von deinem Mist anhören muss, könnte es leicht geschehen, dass ich mich allen Ernstes zu ärgern beginne. Ich sage, wenn du mich irgendwie wirklich ernstlich anzuöden beginnst, könntest du mich vielleicht veranlassen, etwas zu tun, was du zu bedauern haben würdest. Vielleicht würde ich es sogar selbst bedauern. Und jetzt beweg deinen Arsch und hau ab, oder ich lass dich hinauswerfen!«
»Das sagst du zu mir?«
»Das sage ich zu dir. Wenn ich nicht annehmen würde, dass du verrückt bist, würde ich dich einlochen lassen. Dir vielleicht eine Hirnkaustik verabreichen lassen, um dich ungefährlich zu machen. Aber das bist du ja bereits, ein harmloser alter Narr.«
»Du weißt, wer ich bin, Shandor?«
»Ich weiß, wer du einmal warst, ja. Aber das ist lange her. Du tust mir leid. Und jetzt verschwinde von hier! Husch-husch, Alter! Husch, verschwinde!«
Ich holte tief Luft. Ich begriff, es war jetzt an der Zeit, wirklich zu handeln. Die Geschichte glitt allmählich in eine ganz und gar unerwünschte Richtung. Und es würde keinem damit gedient sein, wenn ich wie ein geprügelter Hund von Shandor davonschlich. Wie ein kleiner schmieriger Kesselflicker aus dem Haus der Macht geworfen zu werden, das mochte sich ja beiläufig vielleicht sogar als nützlicher erweisen, doch war es eben überhaupt nicht das, was ich mir vorgestellt hatte.
In finsterem Zorn trat ich ein paar Schritte auf ihn zu.
»Du erbärmliches Schwein, Shandor! Du unaussprechlicher Gestank, du abscheulicher Ekel vor dem Angesicht Gottes.«
Jetzt wirkte er
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