Zirkus Mortale: Kriminalroman (German Edition)
dem Zufall war es zu verdanken,
dass sie noch lebte.
Immer wieder
tauchte das Bild des Mannes vor ihren Augen auf, der sie und Luz während der Vorstellung
beobachtet hatte, und sie konnte seinen dunklen Blick noch jetzt in ihrem Nacken
spüren. Wieder fragte sie sich, wo er ihr zuvor bereits begegnet war, und wieder
wusste sie keine Antwort darauf. Dele begann zu zittern, und das Zittern hörte nicht
auf. Er hatte es einmal versucht und er würde es wieder versuchen.
Mit leerem
Blick starrte sie an die Wand. Sie musste Luz treffen, und sie musste so schnell
wie möglich mit ihr von hier verschwinden. Sie benötigte einen neuen Pass mit anderem
Namen, wenn sie unentdeckt wieder ausreisen wollte, und für Luz gleich noch einen
dazu. Ihre Hand griff nach dem Brustbeutel.
Sie begann,
einen Rosenkranz zu beten, und nach einer Weile verlor sie jegliches Gefühl für
Zeit und Raum. Das Murmeln ihrer Stimme tröstete sie, sie hielt sich fest an ihrem
Klang, sie klammerte sich daran, als sei sie ein Seil, das sie vor dem Untergang
rettete.
Als die
Tür sich bewegte, öffnete sie nicht einmal die Augen, doch der Art der Geräusche
konnte sie entnehmen, dass es Gino war.
»Ciao, Bella«,
sagte er leise und schloss die Tür, und sie lächelte über seinen Versuch, sie mit
dem Ausdruck Bella etwas aufzumuntern. »Ich habe dir etwas mitgebracht.«
Vorsichtig stellte er eine Papiertasche auf den Tisch. »Sieh mal nach«, forderte
er sie auf, nachdem sie keine Anstalten gemacht hatte, sich auch nur einen Millimeter
zu bewegen.
Wie nach
einem langen Schlaf straffte sie sich und streckte die Arme nach der Tasche aus,
und langsam bugsierte sie ein kleines Paket nach dem anderen daraus hervor. Sie
staunte über geblümte Unterhosen, einen karierten BH und Nylonstrümpfe sowie weiße
Tennissocken und ein Paar Sandalen. Zwei weiße T-Shirts, ein hellblaues Kleid und
Jeans. Außerdem eine kleine Flasche Parfum. Beschämt sah sie auf. »Gino, das ist
viel zu viel … muchas gracias!«
Er lächelte:
»Wer weiß, wie lange ich dich hier noch verstecken muss …«
»Ich kann
es nicht bezahlen, es sei denn …« Sie tastete nach ihrem Brustbeutel. »Kannst du
noch ein paar Tage warten? Dann gebe ich dir das Geld für die Einkäufe bestimmt
zurück.«
»Betrachte
die Sachen als Geschenk. Willst du die Flasche nicht einmal öffnen und daran riechen?«
Dele zögerte.
Ein Parfum hatte sie Zeit ihres Lebens noch nicht besessen. Vorsichtig öffnete sie
die sündhaft teuer aussehende rotgoldene Verpackung, dann holte sie eine geschliffene
Glasflasche mit zugehörigem Flakon daraus hervor. Sie schraubte am Verschluss und
schnüffelte. »Gut«, sagte sie. Für weitere Beschreibungen fehlten ihr die Worte.
»Gut«, wiederholte sie noch einmal.
Gino trat
näher zu ihr heran. »Darf ich?«
Verwundert
richtete sie ihre dunklen Augen auf ihn. Er nahm ihr die Flasche aus der Hand, gab
etwas Flüssigkeit auf seinen Finger und berührte vorsichtig ihre Haut. Erst benetzte
er sie hinter dem einen Ohrläppchen, dann hinter dem anderen, und schließlich betupfte
er auch die kleine Kuhle mitten auf ihrem Hals. Aus dem Tupfen wurde ein sanftes
Drücken, und schließlich wanderten seine Finger ihren Hals hinunter zum Schlüsselbein
und stoppten kurz über dem Brustansatz. Dele hielt still. Seine Finger erinnerten
sie an die zarten Fäden der Maiskolben, mit denen sie sich zu Hause in Guatemala
nach der Ernte oft über die Wangen strich.
Sie bog
ihren Kopf ein Stück zurück und ihre Stimme klang rau, als sie fragte: »Was hat
die Kripo gewollt?« Sie hatte die Beamten am Vormittag erneut auf dem Gelände gesehen.
Gino trat
einen Schritt zurück. »Sie fragen nach dir, versuchen herauszufinden, wo du dich
aufhältst.«
Dele sah
ihn erschrocken an. »Und?«
»Keiner
weiß etwas, aber fast alle reden nur gut von dir.«
»Wer nicht?«
Er machte
eine wegwerfende Handbewegung. »Der Zeltmeister.«
Dele nickte.
Schon als sie sich das erste Mal begegnet waren, waren sie sich nicht sympathisch
gewesen. Sie mochte den kleinen, untersetzten Mann nicht, genauso wenig wie er sie
mochte.
»Hast auch
du mitder Kripogesprochen?«
Er nickte.
»Und was
hast du ihnen erzählt?«
»Dass du
gut jonglieren kannst.« Er lächelte. »Außerdem habe ich gesagt, dass du zu kaum
jemandem vom Zirkus engeren Kontakt hattest.«
»Kann es
sein, dass sie bald die Wagen nach mir durchsuchen?«, fragte Dele erschrocken.
»Ich weiß
es nicht«, er zuckte mit den Schultern.
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