Zirkus Mortale: Kriminalroman (German Edition)
die Schultern, um seine Verspannungen zu lockern, und ließ
den Blick über den See gleiten. Es dauerte nicht lange und er spürte, wie das kaum
merkliche Kräuseln der Wasseroberfläche und die aufsteigenden Blasen kleiner Fischmünder
ihn beruhigten.
Die Pappeln
am gegenüberliegenden Ufer standen still, gerade und unbeweglich wie Soldaten, doch
er meinte, ein leichtes Wispern zu hören, das aus den Blättern zu ihm hinüber wehte.
Er spitzte die Ohren. Noch nie hatte er die Stimmen der Natur so deutlich vernommen,
und es überraschte ihn, wie tröstlich sie waren. In einer naturwissenschaftlichen
Zeitschrift hatte er einmal gelesen, dass Pflanzen miteinander kommunizieren, dass
Bäume seltsame hohe Töne absondern, wenn man sie fällt, einzig zu dem Zweck, um
andere Bäume zu warnen. Bei diesem Gedanken glitt ein Schatten über seine Stirn.
Wieviel
hatte Sabrina Sam von alldem erzählt? Sam hatte angefangen, ihn auszuspionieren,
aber was er wirklich in Erfahrung gebracht hatte, wusste er bis jetzt nicht. Er
schlug mit dem Stock auf sein Knie.
Falls er
etwas wusste, warum hatte Sam Stillschweigen bewahrt? Weil er Luz nicht verlieren
wollte? Das schien die einzig plausible Erklärung zu sein.
Erneut traf
ihn sein Schlag, mechanisch ausgeführt. Diesmal hatte er den Stock härter geführt,
und unter dem Schmerz, der ihm wohltat, presste er die Lippen zusammen.
In der Garage,
noch bevor er Sam zusammengeschlagen und in sein Auto gehievt hatte, hatte er ihn
angebrüllt, ihn Bestie genannt. Sein Gesicht verzerrte sich. Noch immer konnte
er Sams Stimme und den Hass darin hören.
Als Sam
endlich still auf dem Rücksitz lag, hatte er den Wagen gestartet und den Schlauch
durch den schmalen Spalt der Fensteröffnung in das Wageninnere gehängt.
Seine Hand
umklammerte fest den Stock, und erneut schlug er zu. Der Schmerz tat gut. Leise
stöhnte er auf.
Es wäre
sicher nur noch eine Frage weniger Tage gewesen, dann wäre Sam wie Sabrina zu ihm
gekommen und hätte ihn aufgefordert, die Geschäfte sofort einzustellen.
Auch Sabrinas
größte Angst war es gewesen, Luz zu verlieren.
Vielleicht
hatte sie deswegen so lange geschwiegen und niemand anderen eingeweiht. Er lächelte.
Immerhin hatte alles gut funktioniert. Sein Plan war aufgegangen, die Ausführung
war überraschend einfach gewesen. Er hatte Sam genauso in die Falle gelockt wie
Sabrina.
Als er ihn
betrachtet hatte, wie er dort lag, in seiner Luxuskarosse, die sein Grab werden
sollte, hatte ihn eine eigenartige Mixtur der Gefühle übermannt. Und dann hatte
er plötzlich angefangen zu lachen, denn Sams Gesicht hatte in seiner Ohnmacht seltsam
komisch ausgesehen.
Mit leerem
Blick starrte er über den See. Er hatte einen Freund verloren, ihn auf perfide Art
und Weise umgebracht. Da war jene Kälte gewesen, die ihm die Tat ermöglichte, ihn
von dem Geschehen distanzierte und in ihm den Eindruck erweckte, er befände sich
in einem Theaterstück.
Als die
Abgase einströmten, hatte er ohne Regung zugesehen, wie Sams Arme schlapp wurden.
Ein Arm war vom Rücksitz gefallen und hatte lose herab gehangen. Er hatte beobachtet,
wie seine Lippen eine letzte Bewegung versuchten. Wie ein kaum merkliches Zittern
seinen Körper erfasste und er ein letztes Mal die Augen aufriss. Voll Ungläubigkeit
hatte er an ihm vorbei in die Ferne gestarrt, hin zu einem Punkt, den nur die Toten
sahen.
Er seufzte.
Jetzt gab es nur noch eins zu tun, und wenn das erledigt war, würde er endlich Ruhe
finden.
Sein Blick
heftete sich auf den Stock auf seinem Knie, den er immer noch fest umklammert hielt.
Dann, nachdem einige Minuten vergangen waren, entkrampfte er sich und legte ihn
behutsam beiseite.
Sonnabend, 23. Juli, mittags
»Luz ist verschwunden«, sagte Marko
Rössner und strich sich mit einer müden Geste über die spärlichen, stoppelkurzen
Haare. Er und seine Kollegin sahen Florian aufmerksam an.
»Wie vom
Erdboden verschluckt«, ergänzte Sylvia Gerlach.
Florian
und Sylvia Gerlach saßen sich in Rössners Büro im Polizeigebäude gegenüber, der
Kriminalhauptkommissar besetzte den Platz am Kopfende des Konferenztisches.
Florian
spürte, wie das Blut aus seinen Adern wich. Nur mühsam brachte er hervor: »Seit
wann?«
»Seit gestern
Mittag«, erwiderte Rössner und fragte: »Ein Glas Wasser?«
Florian
nickte dankbar. »Wer hat sie zuletzt gesehen?«
»Zwei Schulkameradinnen.
Nach Schulschluss ist sie wie üblich mit ihnen den Weg Richtung Bushaltestelle gegangen,
aber sie
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