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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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sogar in einem Film irgendeiner
Erklärung. Da er Vera kennengelernt hatte, hätte ihm klar sein müssen, daß die Motive,
aus denen der echte Missionar das Keuschheitsgelübde abgelegt hatte und Priester
werden wollte, nicht aus dem Stoff waren, aus dem romantische Komödien gemacht sind.
    [656]  Ein falscher Tod – die echten Kinder
    Der Drehbuchautor
war vernünftig genug, um zu wissen, daß er sich festgefahren hatte. Er stand vor
dem Problem, wer sterben würde. Im wirklichen Leben wünschte der Doktor immer noch,
Madhu und Ganesh könnten durch den Zirkus gerettet werden. Aber in einem Drehbuch
wirkte es einfach nicht realistisch, wenn beide Kinder glücklich und zufrieden bis
an ihr Ende weiterlebten. Glaubhafter war auf alle Fälle eine Geschichte, in der
nur eines der beiden überlebte. Pinky war die Artistin, sie war der Star. Der verkrüppelte
Ganesh konnte auf keine bedeutendere Funktion hoffen als die eines Küchengehilfen
– die des Zirkusdieners, des Auskehrers. Er würde im Zirkus bestimmt ganz unten
anfangen müssen, was bedeutete, daß er die Elefantenscheiße wegschaufeln und die
Löwenpisse von den Podesten abwaschen mußte. Ganesh könnte von Glück sagen, wenn
er nach diesem anfänglichen Scheiße-und-Pisse-Job ins Küchenzelt befördert würde.
Essen kochen und servieren wäre schon ein gewisser Aufstieg – wahrscheinlich das
Höchste, worauf der verkrüppelte Junge hoffen durfte. Dies traf auf den echten Ganesh
ebenso zu wie auf den fiktiven – es war, nach Ansicht des Doktors, realistisch.
    Es müßte Pinky sein,
die stirbt, entschied der Autor. Der einzige Grund, warum der Zirkus ihren verkrüppelten
Bruder überhaupt aufgenommen hatte, war der, daß man die begabte Schwester haben
wollte; der Bruder war Teil der Abmachung. Das war die Prämisse der Geschichte.
Aber wenn Pinky sterben sollte, würde der Zirkus Ganesh doch wohl loswerden wollen,
da man für einen Krüppel eigentlich keine Verwendung hatte. Das ist eine bessere
Geschichte, bildete Farrokh sich ein. Der Druck, etwas leisten zu müssen, verlagert
sich plötzlich auf den Jungen. Ganesh muß sich etwas einfallen lassen, damit es
sich für den Zirkus lohnt, ihn zu behalten. Ein [657]  Junge ohne kaputtes Bein kann
die Elefantenscheiße schneller wegschaufeln.
    Es war der Fluch
des Drehbuchautors, daß er sich ständig selbst vorauseilte. Bevor er sich eine Betätigung
für Ganesh ausdenken konnte, mußte er erst entscheiden, wie Pinky sterben würde.
Da sie eine Artistin ist, könnte sie natürlich jederzeit abstürzen, entschied der
Doktor vorschnell. Vielleicht versucht sie Sumans Deckenlauf-Nummer einzuüben und
stürzt dabei ab. Aber wenn man realistisch bleiben wollte, würde Pinky diese Nummer
nicht in der Kuppel des Spielzelts trainieren. Im Great Royal Circus brachte Pratap
Singh den Artisten den Deckenlauf immer im Gemeinschaftszelt bei, wo sich die Leiter
mit den Seilschlingen nicht in fünfundzwanzig Metern Höhe befand, sondern der Kopf
der Artistinnen höchstens einen halben Meter über dem Boden hing. Wenn Farrokh den
Great Royal Circus als Drehort verwenden wollte – und das wollte er –, und wenn
er auf seine echten Lieblingsartisten (in jedem Fall Pinky, Suman und Pratap) zurückgreifen
wollte, dann konnte er keinen Tod gebrauchen, der auf Unvorsichtigkeit oder einen
fahrlässigen Unfall zurückzuführen war. Denn Farrokh wollte den Great Royal und
das Zirkusleben ausschließlich positiv darstellen und auf gar keinen Fall schlechtmachen.
Nein. An Pinkys Tod durfte nicht der Zirkus schuld sein – diese Geschichte hätte
nicht gestimmt.
    Und da fiel dem
Doktor Mr. Garg ein, der echte Säuremann. Schließlich war er im Drehbuch bereits
als Bösewicht eingeführt. Ihn könnte man doch nehmen. (In solchen Augenblicken,
in denen es um reine Erfindung ging, achtete Farrokh das Risiko einer Klage gering.)
Durchaus denkbar, daß der Säuremann von Pinkys Liebreiz und ihrem Können so bezaubert
wäre, daß er ihre zunehmende Berühmtheit – und die Tatsache, daß sie seiner entstellenden
Spezialbehandlung entgangen ist – nicht ertragen kann. Nachdem er Pinky an den Great
Royal verloren hat, [658]  verübt der Unhold einen Sabotageakt im Zirkus. Ein Löwenjunges,
oder vielleicht auch ein zwergwüchsiger Clown, wird mit ätzender Säure überschüttet.
Und die arme Pinky wird von einem Löwen getötet, der aus seinem Käfig entflohen
ist, weil der Säuremann das Schloß weggeätzt hat.
    Tolle Sache! dachte
der

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