Zitadelle des Wächters
noch immer nicht an mehr erinnern. Ich bin zu der Erkenntnis gekommen, daß ich alleine nie mehr zum Wächter zurückfinden kann. Statt dessen durchwandere ich die Nationen und suche nach Menschen, die gewitzt genug, wißbegierig genug und stark genug sind, die Suche aufzunehmen.“
„Du meinst, ich bin nicht der einzige, dem du das erzählt hast?“
„Sei nicht beleidigt, aber das habe ich nicht – Hunderte waren es, glaube ich. Es hätten auch andere Möglichkeiten bestanden: Ich hätte mich als Prophet oder eine ähnliche Figur von Odo ausgeben, jahrelang eine Schar von Jüngern um mich scharen, einiges religiöses Beiwerk um die Fakten flechten können, ein bißchen Magie, ein paar Legenden. Und so hätte ich … einen Kreuzzug ins Leben gerufen. Tausende von Pilgern und Gläubigen hätten das Land auf der Suche nach dem Verlorenen Gott durchstreift oder ähnlichen Blödsinn betrieben. Aber ich glaube, das ist es nicht, was der Wächter im Sinn hatte, als er mich nach Verstärkung ausschickte …“ Kartaphilos lächelte dünn.
„Aber das muß doch schon sehr lange her sein! Du kannst nicht der sein, der du vorgibst zu sein. Du kannst nicht so alt sein!“
„Das bin ich aber.“
„Der Krieg ist vorbei. Alle sind tot, schon lange tot! Auch der Wächter müßte schon lange …“
„Nein!“ Kartaphilos stieß das Wort mit solcher Macht aus, daß Varian erschrocken schwieg, als habe er etwas Blasphemisches ausgesprochen. „Nein, er lebt! Ich weiß es! Ich fühle es!“
Varian lächelte. Die Geschichte hatte sehr überzeugend geklungen. Der alte Mann hatte durchaus ein schauspielerisches Talent voller Details und Nuancen und Gesten. Und er hatte nur so viele Informationen preisgegeben, daß der Appetit der Neugierde erwachen konnte, damit die eigene Vorstellungskraft die Möglichkeit hatte, die Lücken mit Eigenem zu füllen. Fast hätte es geklappt.
„Nein, Alterchen. Du redest Unsinn. Was du sagst, kann unmöglich sein.“
Ein Ausdruck trat in Kartaphilos Augen, der alles bedeuten konnte: Ärger, Haß oder vielleicht Wahnsinn. Was auch immer es war, es gefiel Varian nicht. Langsam wanderten Varians Hände zum Knauf seines Schwertes hinunter.
Aber der alte Mann machte keinen Schritt auf ihn zu. Sein Gesicht verwandelte sich in eine entsetzliche Fratze, und die Stimme, die jetzt ertönte, klang leise und kaum mehr menschenähnlich. „Es ist die Wahrheit. Und das werde ich dir beweisen.“
„Wovon redest du eigentlich?“
Varian trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als Kartaphilos sich am Halsverschluß seiner Robe zu schaffen machte. Seine verschrumpelten, blaugeäderten Hände griffen an die Falten seines Mantels und seines Wams und zogen sie beiseite.
„Nein …“ sagte Varian und hörte seine eigene Stimme verstummen, bis nur noch ein mattes Flüstern zu hören war. „Das gibt es nicht. Das kann nicht sein …“
Er streckte den Arm aus und zwang sich, die entblößte Brust von Kartaphilos zu berühren. Der Rest der Welt verschwand um ihn herum – die Geräusche und Farben der Docks von Mentor –, als er seinen Blick auf das Bernsteinglas an der Brust des alten Mannes konzentrierte. Es ließ klar und tief blicken, wie eine natürliche Wasserquelle, und darauf tanzten Lichter der LEDs und Mikroprozessoren. Abertausende Kreisläufe und Leitungen füllten die Tiefe der Brust, wie Tausende von Straßen in einer Miniaturstadt, eine hypnotisierende Zurschaustellung von Licht, Energie und Magie.
„Es muß sich um einen Trick handeln“, sagte Varian und hoffte, daß er recht hatte.
Kartaphilos schüttelte den Kopf, als er die Falten seiner Kleider losließ und den Körper bedeckte, der wie ein kostbarer Edelstein strahlte. „Kein Trick“,
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