Zitronen im Mondschein
ganze zehn entsetzliche Schritte lang, während Ludwigs Herz zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen.
»Du meine Güte«, meinte sie schließlich. »Das arme Ding.«
»Ob ich … ob ich mit ihr reden soll?«, fragte Ludwig unsicher.
»Um Gottes willen! Dann fängt doch alles wieder von neuem an. Nein, es ist ja nun einmal passiert.«
»Schreib ihr einen Brief«, sagte sie. »Zumindest sollte sie wissen, dass es nicht ihre Schuld ist.«
Er nickte und nahm sich fest vor, Karla zu schreiben, aber er tat es nie.
Sophie wurde seine beste Freundin. Er war in sie verliebt, aber sie ignorierte seine Verliebtheit so konsequent, dass er sie irgendwann fast vergaß. Er ging mit ihr spazieren, und sonntags,wenn Arp arbeitete, fuhren sie oft mit der kleinen Bergbahn auf den Uetliberg und picknickten. Sie aßen hart gekochte Eier und Butterbrote und tranken Rotwein, obwohl es noch nicht einmal zwölf Uhr war. Vor ihnen im Tal lag Zürich ausgebreitet wie ein Geschenk für ein sehr großes Kind. Spielzeughaus an Spielzeughaus und ein grüner Fluss mit Papierschiffchen. Daneben der See, glatt und blau. In Augenhöhe weiße Wolken. Wattebäusche an Seidenfäden. Sophie rezitierte Baudelaire.
Au-dessus des étangs, au-dessus des vallées,
Des montagnes, des bois, des nuages, des mers,
Par delà le soleil, par delà les éthers,
Par delà les confins des sphères étoilées.
Ihr Französisch klang wie Schwyzerdütsch, obwohl sie alle Worte richtig aussprach.
Manchmal besuchte Ludwig Sophie auch in ihrem Atelier an der Kunstgewerbeschule und sah ihr beim Malen zu. Sophie entwarf ihre Textilarbeiten, riesige Wandteppiche mit leuchtenden, abstrakten Mustern im kubistischen Stil. Draußen auf dem schrägen Dach trippelten die Tauben aufgeregt auf und ab und gurrten. Vielleicht berichteten sie sich gegenseitig ihre Reiseerlebnisse. Dass sich die Schützengräben in Frankreich immer schneller mit toten Soldaten füllten. Dass die Leute in Deutschland vor lauter Hunger Sägespäne kochten. Die Krallen der Tauben machten kratzende Geräusche auf den Dachpfannen, es klang, als wären sie irgendwo im Raum und nicht draußen.
In der Welt tobte der Krieg. In Zürich tobten die Dadaisten. Das Cabaret Voltaire hatte inzwischen geschlossen, stattdessen gab man jetzt Vorstellungen in der Galerie Dada. Arp und Tzara muhten und miauten auf der Bühne, Janco spielte eine unsichtbare Geige, Ball begleitete ihn am Klavier, Emmy Hennings versuchte, mit ihrer Stimme Gläser zerspringen zu lassen, als es nicht klappte, schlug sie ein Rad, was ebenfalls nicht gelang. Aber das Publikum wusste jetzt, dass sie rote Unterhosen unter ihrem weiten Rock trug. Man johlte und tobte und klatschte und trieb die Künstler zu noch tolleren Absurditäten an.
»Was wirst du tun, wenn der Krieg zu Ende ist?«, fragte Sophie Ludwig, während sie mit ruhiger Hand eine rote Linie quer über ihr Papier zog. »Gehst du wieder zurück nach Deutschland?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich mache keine Pläne mehr.«
»Warum nicht? Wenn man einen Plan hat, hat man stets etwas, worauf man sich freuen kann.«
»Aber es kommt doch immer anders.«
»Was ist eigentlich geschehen?«, fragte Sophie und setzte dabei eine grüne Linie direkt neben die rote.
Da erzählte er ihr von Maria. Wie er sie im Zirkus kennengelernt hatte und dass sie füreinander bestimmt gewesen waren und heiraten wollten, aber dann hatte sie ihn verlassen.
»Das war etwas, worauf ich mich freute«, schloss er bitter. »Mit Maria mein Leben zu verbringen.«
»Und dann hat sie dich fortgeschickt. Vielleicht gab es einen anderen?«
»Nein«, sagte er bestimmt. »Es war etwas, das sie gesehen hat. Sie war … sie hatte Erscheinungen.«
»Eine Hellseherin.« Sophie nickte, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Sie malte ein schwarzes Quadrat mit zitronengelber Wasserfarbe aus. Am Rand war die schwarze Farbe noch nicht ganz trocken, sie vermischte sich mit dem Gelb und wurde dunkelgrün. »Dann war es vielleicht gut, dass nichts aus euch geworden ist. Vielleicht wurde sie gewarnt.«
»Wer hätte sie warnen sollen? Was könnte es geben, das schlimmer ist als das, was sie mir angetan hat?«
»O Nero.« Sophie legte ihren Pinsel weg und sah ihn an. »Ist das dein Ernst? Es gibt so viel Schlimmeres, unvorstellbare Dinge, die geschehen und einem das Herz zerreißen können. Weißt du das denn nicht?«
»Aber gemeinsam mit ihr hätte ich alles bewältigt.«
»Ja, das glaubst du. Aber
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