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Zone One: Roman (German Edition)

Zone One: Roman (German Edition)

Titel: Zone One: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colson Whitehead
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verschwunden, wie viele wären verschont geblieben, wenn sie in ihren erstickenden Heimatstädten geblieben wären? Wie viele waren von diesem enervierenden Schimmer indoktriniert worden?
    Von Wiederholungssendungen infiziert. Er saugte an den Zähnen. Auf einer Heuwiese wurde man ebenso leicht aufgefressen wie in einem Subwayschacht. Um ehrlich zu sein, war auch Mark Spitz von der Sendung hypnotisiert gewesen, denn er war eingebettet in die Altersgruppe der 18- bis 34-Jährigen, deren unterentwickeltes kulturelles Immunsystem sie für die Faxen der Serie anfällig machte. Der konsumorientierten Kreditkarten-Durchzieher und leicht zu Beeinflussenden. Der Gehorsamen. Erlebe am Ende jeder Episode eine kleinere Epiphanie und vergiss sie bis nächste Woche. Zumindest in dieser Hinsicht war die Sendung lebensnah, dachte er.
    Kaitlyn sagte: »Wahrscheinlich sind unten noch ein, zwei, und dann sind wir mit diesem Block durch.«
    »Genau, wir brauchen eine neue Straße oder so was«, sagte Gary. »Wir haben genug von dem Block hier.«
    »Brauchst du noch mehr Zeit, Mark Spitz?«, fragte Kaitlyn.
    Er schüttelte den Kopf. Er war soweit. Er hatte einen Denkzettel gebraucht, und er hatte ihn bekommen. Es gab kein Wenn-es-vorbei-ist, kein Danach. Nur die nächsten fünf Minuten. Wie alle Großstadtbewohner musste er seine Augen an den neuen Horizont gewöhnen.
    Gary zog den Reißverschluss des letzten Leichensacks zu und zündete sich eine Zigarette an. Er bat Kaitlyn, ihm beim Hinunterschaffen zu helfen.
    Sie zuckte die Achseln. »Wer sackt, der packt.«
    In den ersten beiden Wochen hatten sie die Leichen zu den Fenstern hinausgeworfen. Das war effizient. Die Wahrscheinlichkeit, Passanten zu verletzen, war verschwindend gering. Die Arglosen, die Überraschten, die auf eine Zigarette nach draußen Gegangenen. Sie schleppten die Leichen zur Fensterbank und hievten sie hinaus. Mit dem schmalen Schlitz eines Sicherheitsfensters konfrontiert, schossen sie das Glas heraus. Sie warteten gleichermaßen auf das Geräusch, mit dem Glas in eine Million Splitter zersprang, wie auf das Klatschen auf Asphalt zerplatzender Leichen.
    Das sparte Zeit und Energie. Sie gehörten einer Nation an, die für Abkürzungen schwärmte, und diese Neigung bestand fort. Es war allemal besser, als die Leichen zwölf Treppen nach unten zu zerren und sich dann wieder nach oben zu schleppen, um die Säuberung fortzusetzen. Je weiter oben, desto größer natürlich die Schweinerei. Irgendwann beschwerte sich der Entsorgungsdienst beim Lieutenant oder sonst einem hohen Tier in Fort Wonton, das so dumm war zuzuhören. »Wie war das?«, fragten die Offiziere. Die Leute dieses Teams waren durch die Helme ihrer Schutzanzüge schwer zu verstehen.
    »Defenestration!«, riefen die von der Entsorgung, an diese Demütigung gewöhnt. Die Defenestration erschwerte ihnen über Gebühr ihre Arbeit. Sie war respektlos. Sie war unhygienisch. Sie war, offen gesagt, unpatriotisch. Der gesamte Sackinhalt wurde zu einem klumpigen Schleim zermanscht, und durch die Reißverschlüsse sickerte eine rote Schmierspur auf die Straße, in die Karren, auf die Sammelplätze. Und das selbst dann, wenn die Säcke weitgehend unversehrt blieben.
    Mark Spitz räumte ein, dass die von der Entsorgung nicht ganz unrecht hatten. Es war zu einem Zwischenfall gekommen, bei dem er gedankenversunken auf dem Bürgersteig gestanden hatte, als nur wenige Meter entfernt ein Leichensack aufplatzte und ihn mit eitrigem Sekret und grässlichen Klümpchen bespritzte. Gary entschuldigte sich zwar für die fehlende Vorwarnung, doch ihre Freundschaft entwickelte sich in jenen Anfangswochen trotzdem zögerlich.
    Die kaputten Fenster setzten der Praxis ein Ende. Die Entsorgung konnte sozusagen bis zum Jüngsten Gericht vom Ansteckungsrisiko jammern, aber Buffalo wollte, dass die Stadt für die neuen Mieter bewohnbar war. Zumal, wenn man bedachte, wie die Marines in Zone One gehaust hatten, so notwendig das auch gewesen war. Für Finessen war damals keine Zeit gewesen, es hatte nur die brutalen Erfordernisse der Beseitigung Abertausender von Toten gegeben. Jetzt, mit der Aufstellung der Sweeperteams, konnte man auf eine dem amerikanischen Phönix geziemende Weise vorgehen. Die neue Ära des Wiederaufbaus war vorausblickend und besonnen, und sie schenkte den kleinen Details Beachtung, die sich in den kommenden Jahren bezahlt machen würden: Keine weiteren Beschädigungen der Fenster der neuen Stadt. Die Sweeper fanden

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