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Zone One: Roman (German Edition)

Zone One: Roman (German Edition)

Titel: Zone One: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colson Whitehead
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Benzinbeschaffungsfahrten oder erwischte sie beim Überklettern der Mauern, die Rucksäcke voller Konservendosen und Accessoires. Wenn er etwas an einem fand, was er mochte, wurde man zum Bleiben aufgefordert. Er kleidete sich wie ein Motorradklub-Muskelprotz, aber er war ein sehr sanftmütiger Mensch; die Kleidung war nur ein Kostüm, und wenn er Leute wegschickte, gehorchten sie.
    »Es war nicht irgendein verrückter Kult oder so was«, sagte Mim, während sie Pulver aus einem Proteinpäckchen lutschte und sich die Reste von den Fingerspitzen leckte. »Er hat nichts Bescheuertes versucht, zum Beispiel dass man jeden Donnerstag um Mitternacht den Ältesten töten musste oder so – er wollte einfach nur Leute, mit denen er klarkam. Größtenteils Kiffer.« Willoughby Manor umfasste zur Zeit seiner größten Stärke dreißig Leute und war gut geführt. Organisierte Nahrungsbeschaffungsfahrten, ein schwarzes Brett. »Keine Fieslinge, keine Vergewaltigungen. Wir haben uns unauffällig verhalten, und das hat dafür gesorgt, dass draußen keine Skels rumhingen.« Licht aus nach Einbruch der Dunkelheit war die Regel, worauf sich alles zu besinnlichen Abendverkostungen im Weinkeller versammelte. Unten in den sich verzweigenden Tunneln gab es reichlich Unterhaltungsmöglichkeiten, um sich die Zeit zu vertreiben. Sie spielten Poker zwischen den Brunellos, lösten Silbenrätsel vor den argentinischen Jahrgangsweinen und sahen sich in dem letzten, nicht fertig gewordenen Raum, der unter dem Pool lag – das musste man sich mal vorstellen –, die vielgeliebten Sitcoms an. Mim hatten sie von Dariens Hauptstraße gepflückt, nachdem sie sich bei der Flucht vor einem Skel-Schwarm, dem sie zufällig über den Weg gelaufen wäre, mit dem Sicherheitsabstand verkalkuliert hatte. »Findest du es nicht auch zum Kotzen, wenn so was passiert?«, fragte sie. »Man kümmert sich um seinen eigenen Kram, will sich die Lippen eincremen, und auf einmal: Rumms.« Die Willoughbys lasen sie mit einem SUV auf, und sie blieb dabei.
    »Hört sich nach einem schönen Arrangement an.«
    »Es war toll. Ich habe wirklich gedacht, ich warte das Ganze dort ab.« Ihr Ton änderte sich. Sie war nicht die erste, die seinen Gesichtsausdruck missdeutete. »Ich glaube immer noch daran – dass wir diese Sache besiegen. Ganz egal, wie lang es dauert. Und dann gehen wir alle nach Hause.«
    Er biss auf die Zähne, um seine Maske aufrechtzuerhalten.
    Das Idyll wurde von einem aus ihrer Mitte beendet, Abel, der bestimmte Theorien über die Seuche und ihren Sinn entwickelt hatte. Er gehörte zu den Verfechtern der These von der Apokalypse als moralische Hygiene, mit einem Einschlag von Erstsemester-Sozialismus. Die Toten kamen, um die Erde vom Kapitalismus und dem riesigen bourgeoisen Überbau mit seinen Zierdeckchen, seinen überfürsorglichen Eltern und seinem Video-Streaming zu befreien und uns zur Natur und einem gesunden, gemeinschaftlichen Leben zurückzuführen. Keiner habe ihn groß beachtet, sagte Mim; Abel war ein guter Arbeiter, und draußen im Ödland begegnete man wesentlich verrückteren Leuten.
    Mark Spitz hatte im Lauf der Monate viele Leute getroffen, die an göttliche Vergeltung glaubten. Das war ihr großer Augenblick; sie waren Regenschirm-Vertreter, die in einem Wolkenbruch vor einem Subwayeingang standen. Die Menschheit verdiente die Seuche, wir hatten sie selbst über uns gebracht, wegen der Vergiftung des Planeten, wegen des Todes Gottes, der kalkulierten Brutalitäten des globalen Wirtschaftssystems, der Ausrottung seit Urzeiten existierender Arten: des Zusammenbruchs sämtlicher Werte, wie ersichtlich an schlichtweg allem von der Atomspaltung über das Reality- TV bis hin zum Parken auf alternierenden Straßenseiten. Mark Spitz konnte diese Tiraden nur ein, zwei Minuten lang ertragen, ehe er sich davonmachte. Die Seuche war die Seuche. Man trug Überschuhe, oder man trug keine.
    »Dann eines Nachts«, sagte Mim, »war es vorbei.« Die meisten Bewohner waren unten im Keller – es war der Spieleabend –, als Abel nach unten kam und sagte, er könne nicht länger tatenlos mitansehen, wie der Rest des Hauses das Urteil der Seuche ignoriere. Welches Recht wir hätten, zu lachen, zu feiern und Texas Hold’em zu spielen, während der Rest der Welt seiner gerechten Strafe zugeführt werde? »Und deswegen«, sagte er zu ihnen, »habe ich das Tor aufgemacht.«
    Sie rannten nach oben. Abel hatte mehr getan als das Tor aufgemacht. Die Toten

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