Zopfi, Emil
weitere Scheibe ging in die Brüche. Dreck und Steine flogen in den Wagen, ein Stück Holz traf Hermann am Kopf. Das Licht ging wieder an, verstörte Gesichter, über zwei oder drei rannen Blutstreifen. Dann gingen die Türen auf. Die Vordersten stürzten hinaus, andere stolperten über sie hinweg, empfangen von einem Hagel von Holzstücken und Dreck. Im grellen Schein einer Fackel sah Hermann einen Mann mit blutüberströmtem Gesicht vorübertorkeln. Stimmen schrien nach Polizei. Oben im Wald skandierten Vermummte: «Volkspartei Faschisten. Volkspartei Faschisten …» Dazu schlugen sie mit Ästen den Takt auf Baumstämme. Auf der Strasse weiter unten heulten Polizeisirenen, Blaulicht pulsierte. Hermann sah Männer in Kampfanzügen aus Mannschaftswagen springen, in Gruppen gegen den Wald anrücken.
«Die haben Öl auf die Geleise geschüttet, die Terroristen.»
«Wenn wir einen erwischen, machen wir ihn kalt.»
Der Lichtstrahl einer Handlampe blendete Hermann. «Da ist einer», kreischte eine Stimme. Panik packte ihn. Er duckte sich, setzte über die Schienen, stolperte und stürzte kopfüber die Böschung hinunter. Hinter sich hörte er Rufe, gellende Schreie, wieder klirrten Scheiben. Im Wald war ein Kampf im Gang zwischen Männern aus dem Zug und den Leuten, die ihn gestoppt hatten. Autonome offenbar. Scheinwerfer flammten auf, immer mehr Mannschaftswagen und Ambulanzen fuhren heran. Hermann duckte sich in eine Senke, er zitterte. Feuchtigkeit drang durch seine Kleider und das Transparent, das er um den Körper gewickelt hatte. Er versuchte das Niesen zu unterdrücken, schnäuzte sich mit zwei Fingern die Nase.
Wenn ihn Schläger von der Volkspartei erwischten und das Transparent entdeckten, würden sie ihn lynchen. Er wagte kaum noch zu atmen, bis es schien, als hätten sie seine Spur verloren oder aufgegeben. Eine Salve Gummischrot krachte in der Nähe. Die Geschosse rieselten wie Hagelkörner ins Laub. Er hob den Kopf, sah im Scheinwerferlicht wenige Schritte über sich im Gehölz zwei Polizisten in Helm und Kampfanzug, Knüppel in der Hand. Ein dritter schleppte einen Jungen an den Haaren den Hang herab. Er schrie und wand sich, bis ihn ein Knüppelschlag in die Seite traf. Neben den Polizisten stand eine Frau im Schatten eines Baumes, unterhielt sich mit ihnen. Die kenne ich, schoss Hermann durch den Kopf, die kenne ich. Lange Haare, zu einem Zopf geflochten. Irgendwo gesehen, aber vergessen. Dann ging das Scheinwerferlicht aus. Er hörte einen Hund bellen. Der Lärm entfernte sich.
Hermann beruhigte sich allmählich. Rückwärts kroch er aus der Senke unter einen Busch. Dahinter sah er einen Weg, der den Schienen entlang gegen die Stadt hinunterführte. Kein Mensch war zu sehen, der Lärm hatte sich gegen die Waldegg hin verzogen. Die Strasse entlang parkte eine lange Reihe von Polizei-und Ambulanzfahrzeugen, Bullen standen herum, einige rauchten. Ein Arrestwagen mit vergitterten Fenstern fuhr weg. Die Schlacht schien zu Ende zu sein. Oben im Wald bellten Suchhunde. Er musste verschwinden.
Hermann erinnerte sich, dass eine Unterführung zum Weg nach Albisrieden hinunterführte. Geduckt eilte er die Schienen entlang, fand die kurze Treppe. Die Unterführung war menschenleer. Auf der andern Seite atmete er tief durch. Dann ging er langsam durch ein Waldstück gegen Albisrieden hinab, als sei er auf einem Abendspaziergang. Er versuchte Robert anzurufen, doch dessen Smartphone war nicht eingeschaltet.
Die Lichter von Albisrieden lagen vor ihm, er hörte das Dreiertram in der Schleife quietschen. Zwischen den Wolken glaubte er ein Stück Himmel zu sehen, einen einsamen Stern. Nun fiel ihm ein, wo er die junge Frau gesehen hatte. Bei der Abdankung von Martin Kunz im Volkshaus hatte sie geredet. Sie hatte einen Pakol getragen, die Haare offen. Er kannte die flache Mütze mit dem wulstigen Rand, seit er durch die Türkei, Iran, Afghanistan und Pakistan bis nach Indien getrampt war. Robert war mit der Frau in den Blauen Saal gekommen, später hatte er im «Coopi» mit ihr gesprochen. Stand sie nun auf der Seite der Polizei, oder irrte er sich einfach? In den Augen eines Alten sahen sich viele junge Frauen ähnlich.
Wie oft hatte Robert über sein Leben nachgedacht in all den Jahren. Die Politik, die Literatur, die Reisen und Träume. Und seine Frauen. Die meisten vergessen aus der Zeit der freien Liebe. Jeden Tag eine andere, hatte man unter Männern geprahlt, auch wenn es mächtig übertrieben war. Freie
Weitere Kostenlose Bücher