Zores
nicht einmal, wohin er fliehen sollte. Er kannte keine Menschenseele in Ungarn, der Tschechoslowakei oder Jugoslawien. Und er besaß kaum genügend Barmittel, um irgendwo in der Fremde länger als ein paar Wochen über die Runden zu kommen. Unwillkürlich musste er an diesen Ort an der Côte d’Azur denken, dieses Sanary-sur-Mer, wo sich die ganze deutsche Hautevolee ein Stelldichein gab. Jemand wie er würde dort gerade zweimal übernachten können, dann wäre er vollkommen pleite.
Ach was!, sagte er sich. Er löste jetzt einmal diesen Fall, alles andere war im Augenblick sekundär.
„Also, Cerny, find heraus, wer für den Suchy notariatsmäßig zuständig ist. Ich frag derweil noch einmal diese Jedlicka, ob sie wenigstens von einem der Buben den Namen kennt. Vielleicht kommen wir ja so weiter.“
Cerny seufzte abermals und verließ dann wortlos das Büro. Bronstein griff nach seinen Zigaretten und zündete sich eine an. Dabei merkte er, wie seine Hand zitterte. Offenbar ging ihm die ganze Sache doch mehr an die Nieren, als ihm bewusst war. Er schüttelte sich und sog dann gierig den Rauch ein. Der Konsum des Nikotins ließ ihn etwas ruhiger werden. Was also, so fragte er sich, war zu tun? Am besten, er begab sich zurück in die Skodagasse und versuchte dort, irgendwelche Namen von Kindern in Erfahrung zu bringen, die Suchy unter seinen Fittichen gehabt hatte.
Er hatte sich eben erhoben, als das Telefon läutete. Er ließ sich wieder auf den Sessel plumpsen und hob den Hörer aus der Gabel. Vorschriftsmäßig meldete er sich.
„Schwester Aurelia hier. Vom Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern in der Stumpergasse. Sagt Ihnen, Herr Oberst, der Name Pokorny etwas?“
Bronstein fuhr auf: „Der Pokorny! Ja sicher! Was ist leicht mit ihm?“
„Er hat ein Schlagl g’habt. Und es könnt besser ausschauen, auch wenn’s, Gott sei’s gedankt, durchaus noch Hoffnung gibt. Wir haben ihn g’fragt, ob wir irgendjemanden verständigen sollen, und da hat er uns Ihren Namen genannt, Herr Oberst. Und deswegen ruf ich an.“
„Jessasmarandana! Der Pokorny! Ja, um Himmels willen! Kann man ihn besuchen?“
„Ja, ohne Frage! Jederzeit. Und, ehrlich g’sagt, es wäre besser, Sie täten Ihnen beeilen. Sicher ist sicher.“
„Ich bin in zwanzig Minuten da.“
Bronstein verließ das Präsidium und winkte einem Taxi. Einmal im Fond des Wagens, nannte er die Adresse und zündete sich nervös eine Zigarette an. Der Pokorny! Wie war ihm der Mann während der 14 Jahre, die sie zusammengearbeitet hatten, mitunter auf die Nerven gegangen! Aber seit Pokornys Pensionierung war kaum eine Woche vergangen, in der er den alten Dampfplauderer nicht vermisst hätte. Erst vorigen September hatten sie seinen 75. Geburtstag gebührend gefeiert, und wie eh und je waren Bronstein und Cerny kaum dazugekommen, auch nur ein Wort zur Unterhaltung beizutragen. Pokorny war in seinem Element gewesen, und wenn ein Stenograph seine Monologe an jenem Abend mitgeschrieben hätte, die Stadt würde heute über eine neue Bibliothek verfügen. Und nun lag der arme Pokorny also im Spital. Vom Schlag getroffen. Merkwürdig, dass dieses Ereignis ausgerechnet jetzt eingetreten war, denn vor wenigen Stunden hatte er ja noch selbst geglaubt, von dieser Erde abberufen zu werden. Das Schicksal ging oft merkwürdige Wege.
Bronstein kurbelte das Fenster hinunter und warf den Zigarettenstummel auf die Straße. Dann bezahlte er den Fahrer und stieg aus. Mit klammen Beinen betrat er das Krankenhaus. „Ah, Sie sind sicher der Herr Inspektor“, wurde er von einer dicklichen Alten in Schwesternornat begrüßt. „Der Herr Pokorny liegt im zweiten Stock auf 205. Und schrecken Sie sich Ihnen nicht, es schaut schlimmer aus als es möglicherweise ist.“ Bronstein konnte nicht behaupten, dass ihn diese Information beruhigt hätte.
Er öffnete die Tür und sah sich sechs Betten gegenüber, von denen vier belegt waren. Je zwei an jeder Wand. Zwischen denBetten standen hölzerne Sessel, über ihnen befanden sich große Kruzifixe. Die Mitte des Raumes wurde von einem schlichten Tisch dominiert, während sich unter dem einzigen Fenster des Raumes irgendein Grünzeug, das Bronstein kurzerhand zu einem Gummibaum erklärte, befand.
„Sea’s, O’ers.“ Die matte, lallende Stimme hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem volltönenden Organ Pokornys. Sein Gesicht war aschfahl, die Wangen eingefallen, die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Das schlohweiße Haar stand wirr von
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