Zorn der Meere
findet Ihr nicht?«
Seltsam, wunderte sich Francois, wie reglos seine Augen bleiben, während sie sich in die Seele seines Gegenübers bohren. Doch vielleicht muss er ja gar nicht bohren, vielleicht bin ich ja durchsichtig geworden, und alle Welt weiß, dass sie mir gefällt. Es wäre dennoch besser, das Thema zu wechseln.
»Was führt Euch eigentlich nach Ostindien?«, erkundigte er sich im unverfänglichen Plauderton.
»Dasselbe wie alle anderen auch. Ich möchte mich verbessern.«
»Ihr seid aber doch ein studierter Mann, oder nicht? Auch mit einem angesehenen Beruf, wenn ich nicht irre.«
»Nun, wie man will. Ich war zuvor Apotheker, also nichts Besonderes.«
»Warum so bescheiden? Diese Art von Wissen dürfte Euch in Ostindien ein gutes Auskommen bescheren.«
»Sofern es Gottes Wille ist«, entgegnete der Unterkaufmann demütig.
Je näher sie dem Äquator kamen, umso wärmer wurden die Tage.
Die Passagiere waren inzwischen seefest geworden und hatten sich an den Wellengang gewöhnt. Sie verbrachten nun einen größeren Teil ihrer Zeit auf dem Oberdeck, wo sie aus Tüchern kleine Segel errichtet hatten, um sich gegen die stärker werdenden Sonnenstrahlen zu schützen.
»Geht es Euch besser?«
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Judith blickte auf. Da war wieder der kräftige Bursche mit dem weizenblonden Haar, der Soldat, den sie am liebsten umgebracht hätte, als sie so schrecklich seekrank gewesen war.
Er stand an der Reling und lächelte freundlich. Seine kornblumenblauen Augen bildeten einen auffälligen Kontrast zu dem hellen Haar und dem blonden Bart.
Eigentlich gefällt er mir ganz gut, dachte Judith, woraufhin sie sogleich erschrak. Solche Gedanken geziemten sich nicht für ein Mädchen, und überdies hatte sie bislang mit Fremden nur gesprochen, wenn ihre Eltern anwesend waren.
Judith wandte den Kopf ab. Ihr Vater würde außer sich geraten, wenn er sie bei einer Unterhaltung mit einem Mann überraschte, vor allem wenn es sich dabei nur um einen gemeinen Soldaten handelte.
»Böse Sache, so eine Seekrankheit«, fuhr der Soldat fort. »Ich habe früher selbst darunter gelitten. Inzwischen muss es schon arg kommen, ehe mir der Appetit vergeht.«
Judith spürte, dass sie errötete. Er sieht wirklich nicht übel aus, dachte sie, wenn auch ein wenig derb.
»Fühlt Ihr Euch nicht wohl? Ihr seid doch hoffentlich nicht krank?«
Judith schüttelte den Kopf. »Vielleicht esse ich nicht genug -
es... schmeckt mir nicht.«
»Sieh an, das Fräulein kann ja sogar etwas sagen! Ich hatte bereits befürchtet, Ihr hättet neulich auch Eure Zunge ausgespuckt.«
Judith lächelte zaghaft. Er war ein lustiger Vogel.
»Nun«, fügte er hinzu, »das Essen an Bord ist immer eine Katastrophe. Aber dabei ist es wie mit dem Wellengang. Nach einer Weile hat man sich daran gewöhnt.«
»Ich will mich aber nicht daran gewöhnen - ich will nur einfach fort«, brach es aus Judith hervor. »Ich will in einen
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saftigen Apfel beißen und schlafen, ohne dass mich das Schnarchen von hundert Nebenschläfern stört!«
»Oho, die Dame führt zu Hause ein feines Leben!«
Er macht gar keinen Spaß, ging es Judith durch den Sinn, er macht sich über mich lustig! Vielleicht drückte er aber auch einfach nur eine Tatsache aus. Im Vergleich zu ihm führte sie wahrscheinlich ein angenehmes Leben. Vermutlich waren die Entbehrungen, die sie beklagte, nichts im Vergleich zu denjenigen, die er auszuhalten hatte.
Judith blickte sich verstohlen nach ihrem Vater um.
Der Soldat hatte ihre Gedanken offenbar erraten.
»Ich nehme an, dem Herrn Prediger wäre es nicht Recht, Euch mit einem einfachen Soldaten plaudern zu sehen.«
Judith senkte die Lider. Warum sollte sie annehmen, dass sie etwas Besseres sei als er? Dieser Mann war der erste Mensch, der ein paar mitfühlende Worte mit ihr wechselte.
»Wart Ihr schon einmal in Ostindien?«, fragte sie mutig.
»Ja, einmal. Ich habe dort in einem Krieg gekämpft.«
»Wollt Ihr deshalb wieder zurück? Um abermals zu -
kämpfen?«
»Warum denn nicht? Das ist alles, worauf ich mich verstehe, und der Sold ist auch nicht schlecht.«
Judith starrte auf die Schaumspur, die das Kielwasser hinter ihnen aufwirbelte.
»Ich vermisse Holland«, murmelte sie.
»Was gibt es denn da zu vermissen?«, fragte der Soldat. »Wo Ihr hinfahrt, ist es längst nicht so grau und kalt.«
Judith hob den Blick zu ihm auf und lächelte dankbar. Der Soldat nickte aufmunternd zurück.
»Judith!«
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Judith fuhr herum und sah
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