Zorn der Meere
aufleuchten.
»Für den Augenblick lassen wir sie jedoch noch in Ruhe«, fuhr er fort. »Erst wenn die Zeit gekommen ist, rechnen wir mit ihnen ab.«
»Versprochen?«, wollte der Steinmetz wissen.
»Versprochen«, erwiderte Jeronimus.
Später brachen Mattys Beer, der Steinmetz und mehrere der Jonkers auf, um Robben zu jagen.
Lucretia schaute ihnen nach. Als die Männer am Abend mit leeren Händen wiederkamen, wunderte sie sich nicht. Sie hatte keinen Zweifel an dem, was vorgefallen war. Niemand benötigte Schwerter, Messer und Bajonette, um ein paar Seehunde totzuschlagen.
Auf der Langen Insel
Wiebe fuhr aus dem Schlaf hoch. Er glaubte, einen Schrei vernommen zu haben, und setzte sich auf. Vielleicht war es lediglich eine Möwe gewesen.
Er stand auf und ging hinunter zum Strand.
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Als die Wachen seinen Schritt vernahmen, sprangen sie aus der Dunkelheit hervor, doch beim Klang seiner Stimme zogen sie sich wieder zurück.
Gott sei Dank schlafen sie nicht, dachte Wiebe.
Ein runder Mond stand hoch am Himmel, umgeben von einer Schar heller Wolken. Der Wind war kalt, und hohe Brandungswollen donnerten gegen die Felsen.
Wiebe ließ den Blick zu der Friedhofsinsel schweifen. Sie lag da wie ein stiller, dunkler Schatten.
Jeronimus hat sich verrechnet, dachte Wiebe triumphierend.
Er glaubte, uns in einer Felswüste auszusetzen, doch im Vergleich zu denen da drüben leben wir wie im Paradies.
Sie hatten alles, was ein Mensch zum Überleben brauchte: Vögel, deren Eier, Fische, Muscheln aller Art, die Robben, die sich zutraulich wie kleine Hündchen auf den Felsen aalten und mit wenigen Schlägen zu erlegen waren.
Das Wasser, das sie in den Felsen entdeckt hatten, würde fürs Erste ausreichen. Sie hatten tiefe Zisternen ausgehoben, in die sie hinabstiegen, um die Becher zu füllen. Es war frisches Wasser, süß und rein, das die vierzig Personen, die sie waren, versorgte.
Wie seltsam das Leben spielt! dachte Wiebe. Wahrscheinlich halten wir länger durch als Jeronimus und seine Leute. Wir wären vermutlich sogar noch hier, wenn der verwünschte Kommandeur bis Amsterdam segelt, um Hilfe zu holen.
Auf dem Friedhof
Lucretia erblickte eine Hand voll Männer, die sich um das Feuer geschart hatten. Ihre Gesichter konnte sie nicht erkennen, doch die Stimmen waren ihr inzwischen vertraut.
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Van Huyssen befand sich unter ihnen, der Steinmetz, Jan Hendricks, die Brüder van Weideren und Jan Pelgrom, Francois'
ehemaliger Kabinenjunge. Seine Stimme klang hoch und schrill.
»Habt ihr gehört, wie er geschrien hat? Er hat sich aufgeführt wie ein Weib. Auf den Knien hat er gefleht, ich möge ihn verschonen.«
»Was hast du denn erwartet?«, fragte van Huyssen. »Er war nur ein einfacher Zimmermann.«
»Auch ein Zimmermann sollte Selbstachtung besitzen«, sagte einer der van Weiderens. »Man hat zu sterben wie ein Mann.«
»Pah!«, machte Jan Hendricks. »Mir ist es gleich, wie sie sterben.«
»Ich hatte einen Morgenstern dabei!«, rief Jan Pelgrom dazwischen. »Da hing das Hirn dran, als der Kerl noch brüllte.
Ich habe noch drei Mal zuschlagen müssen, bis er schwieg.«
»Aber jeder entleert seinen Darm, ganz gleich wie schnell oder langsam es geht«, ließ sich van Huyssen vernehmen.
Lucretia war auf einen losen Stein getreten. Van Huyssen fuhr herum.
Sie wandte sich um, um zu flüchten, doch van Huyssen war mit wenigen Schritten bei ihr.
Nun wird er mich töten, dachte Lucretia.
Van Huyssen packte sie jedoch nur und schleifte sie zu ihrem Zelt zurück. »Du dummes Weibsstück«, knurrte er, während er sie durch den Eingang stieß. Danach rief er eine Wache herbei und postierte sie vor Lucretias Zelt.
Nach einer Weile tauchte Jeronimus auf und befahl Lucretia zornig, ohne seine Erlaubnis von nun an mit niemandem mehr zu sprechen.
Später lag Lucretia auf ihrem Lager und rollte sich wie ein Embryo zusammen. Sie würgte und presste sich die Hände auf den Leib. Dann verbarg sie ihr Gesicht in den Händen und
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stöhnte. Tiefe Schluchzer brachen aus ihr hervor, während sie sich Trost suchend wiegte und verzweifelt dem Rauschen des Meeres lauschte. Ich bin in der Hölle gelandet, ging es ihr durch den Sinn, und sie ist noch weitaus schrecklicher, als ich jemals dachte.
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XXI
Nach vorherrschender Meinung findet nicht jede Seele Erlösung nach dem Tod. Das ist ausnahmsweise richtig.
Andererseits gilt auch die Meinung, es gäbe Menschen ohne Seele. Wenn ich kleinlich wäre,
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