Zorn der Meere
könnte ich fragen, was aus jenen wird, wenn sie sterben, doch ich vernachlässige diesen Gedanken für gewöhnlich als einen der zahllosen Widersprüche des christlichen Glaubens.
Seelenlose Menschen behandele ich wie diejenigen ohne Gewissen. Sie interessieren mich kaum, doch ich benutze sie zu meinen Zwecken.
Lieber ist mir der Mensch, den ich als grau bezeichne, der wankende Schatten, der zwischen Gut und Böse taumelt, wohl wissend, worin der Unterschied besteht.
Wie ich mich weide, wenn er sich nachts reuig auf dem Kissen wälzt und die Gräueltat, die er beging, rückgängig machen möchte. Ach, und dann mein Entzücken am anderen Morgen! Da erhebt er sich zerknirscht und zerknittert und schwört, hinfort nur Gutes zu tun.
Leider gelingt es ihm nicht, denn er hat die Früchte des Bösen genossen, und es dürstet ihn nach mehr.
Auf dem Friedhof
Jeronimus tobte. »Wie konnte es geschehen, dass sie eins der Flöße stehlen?«, brüllte er.
Der Steinmetz deutete auf Zeevanck. »Fragt ihn! Er hatte Wache.«
Zeevanck blickte verstockt zu Boden.
»Also?« Jeronimus sah Zeevanck abwartend an.
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Zeevanck zog es jedoch weiterhin vor zu schweigen.
»Die beiden waren im Frauenzelt«, ließ Wouter Loos sich vernehmen.
»Wie schön!«, erwiderte Jeronimus kalt. »Derweil sie sich der Frauen bedienten, bedienten sich andere der Flöße.« Er betrachtete Zeevanck angeekelt. »Wissen wir, wer verschwunden ist?«
»Der Arzt ist nicht mehr in seinem Zelt«, erklärte Loos.
»Ich hätte ihn fast erwischt«, verteidigte sich Zeevanck mürrisch.
Großartig, dachte Jeronimus. Nur weil es ihnen zwischen den Beinen juckt, fehlt uns ein Floß. Wenn Janz damit zur Langen Insel gerudert ist, wird er die Söldner warnen. Die werden sich dann nicht zu Tode jagen lassen wie diese niedrigen Kreaturen auf der Robbeninsel.
»Es ist eine Schande vor dem Herrn«, verkündete Pfarrer Bastians. Er bebte vor Zorn. »Jeronimus und sein so genannter Inselrat führen sich auf wie Tiere. Ich werde nicht länger dulden, dass sie derart mit gottesfürchtigen Menschen verfahren.«
Es hatte Judith längst nicht mehr gewundert, dass ihr Vater das Verschwinden zahlreicher Inselbewohner wortlos hingenommen hatte oder dass er allenfalls Jeronimus'
Erklärungen wiederholte, die Menschen hätten sich woanders niedergelassen oder seien ertrunken.
Nun war jedoch etwas Neues vorgefallen.
Tryntgen war von Mattys Beer und David Zeevanck vergewaltigt worden.
Das ließ sich nicht beschönigen. Dazu konnte Pfarrer Bastians nicht schweigen.
»Ich habe Angst, Gijsbert«, murmelte Frau Bastians.
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Pfarrer Bastians hob die Hand. Seine Augen funkelten. »Der Teufel ist unter uns!«, rief er. »Ich werde ihm das Handwerk legen!«
»Lass uns zuvor beten!«, bat Frau Bastians.
»Wir beten, seit wir hier gelandet sind«, beschied ihr Mann sie ungeduldig. »Nun geht es um mehr. Nun prüft Gott unseren Mut. Doch er muss sich nicht sorgen. Den Satan lasse ich nicht gewähren, hier ebenso wenig wie in Holland.«
In Holland gab es Wachsoldaten und Bürgerwehren, die Gottes Anliegen schützten, hätte Judith ihren Vater gern erinnert. Und was den Satan betrifft, so lässt du ihn bereits viel zu lang gewähren, dachte sie.
Pfarrer Bastians warf sich seinen Rock über und ergriff die Bibel. »Du kommst mit mir, Judith!«, befahl er.
Vor dem Eingang von Jeronimus' Zelt lungerten ein paar Jonkers. Der Wind trug ihr Gelächter zu ihnen.
Sie sind kaum älter als ich, dachte Judith. Wie kommt es, dass sie derart schreckliche Dinge zu tun vermögen? Wo haben sie das Morden gelernt?
Ihr Vater schien sich zu stählen. »Verzage nicht, o Häuflein klein«, summte er. Seine Schritte knirschten auf den Korallen.
Jeronimus war aus seinem Zelt getreten. Er stützte die Hände in die Hüften und schaute den Näherkommenden entgegen.
Welch einen lächerlichen Anblick wir abgeben müssen, dachte Judith. Vorab mein Vater, im schwarzen, wehenden Rock wie eine fette Krähe, und ich wie ein dürrer Spatz hinterher.
Jeronimus machte eine Bemerkung, woraufhin die Jonkers erneut in Gelächter ausbrachen.
Judiths Herz begann Trommelwirbel zu schlagen. Das geht nicht gut, dachte sie angstvoll.
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»Ja, wen haben wir denn da?«, rief Jeronimus erfreut. »Der Herr hat uns seinen Hirten entsandt. Wie lautet die Losung des Tages, lieber Pfarrer Bastians?«
Pfarrer Bastians kam schwer atmend zum Stehen. Mit der rechten Hand hob er die Bibel hoch. »Seid Ihr mit
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