Zorn der Meere
sie.
Eines Nachts schloss der Steinmetz seine Fäuste um Judiths Kehle, drückte zu und begann, sie zu würgen, als er in sie eindrang.
Sussie sah es. Sie schrie gellend auf und stieß Mattys Beer von sich. »Er will sie töten!«, kreischte sie. »Lass das nicht zu!
Der Steinmetz bringt Judith um!«
Der Steinmetz löste seine Hände von Judiths Hals und stierte Sussie an. »Sie macht es nicht richtig«, beschwerte er sich.
»Vielleicht macht sie es nur bei den Jonkers gut.«
Dreißig Grad und dreizehn Minuten südlicher Breite
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achter Tag des September im Jahre des Herrn, 1629
Als Francois merkte, dass er zu schwanken begann, biss er die Zähne zusammen. Er konnte sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten. Auch Gerritz und Jakobsen waren aschgrau im Gesicht und bewegten sich langsam und schwerfällig.
Seit fünfzig Tagen waren sie nun auf dem Meer, umkreisten nutzlos die Stelle, von der Gerritz behauptete, dort sei die Batavia gesunken, und noch immer war keine der Inseln in Sicht.
Francois wandte sich zu Claas Gerritz um. »Wie lang habt Ihr noch vor, hier die Zeit zu vertrödeln? Warum, glaubt Ihr, sehen wir die Inseln nicht, wenn die Batavia angeblich vor uns liegt?«
»Ich kann es mir auch nicht erklären«, entgegnete der Steuermann. »Der Wind scheint uns abzutreiben.«
Der Wind scheint uns abzutreiben, dachte Francois bitter.
Gestern hieß es noch, der Wind treibt uns zu schnell voran. An einem Tag steuern wir auf das Südland zu, am nächsten flüchten wir zurück und scheuen uns vor den Riffen, und am Tag darauf beginnen wir wieder mit dem gleichen Spiel.
»Was wir tun, ist lachhaft, Gerritz«, bemerkte Francois. »Ihr wisst doch selbst ganz genau, dass Jacobs uns in der Hälfte der Zeit nach Java schaffte. Und das in jenem jämmerlichen kleinen Langboot. Nun befinden wir uns auf dem besten Schiff der Flotte und kommen nicht vom Fleck. Da ist doch irgendetwas faul, oder nicht?«
»Es tut mir Leid, dass Ihr Euch nach Eurem alten Skipper sehnt«, schaltete sich Jakobsen bissig ein. »Mir war nicht klar, dass er mir als Vorbild dient. Dennoch versteht Ihr vielleicht, dass ich mich lieber an meine Berechnungen halte.«
»Gottverdammt«, fluchte Gerritz mit plötzlich aufflammendem Zorn. »Der Skipper hat sich nicht geirrt! Und
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die hundsföttische Gesellschaft wird lange suchen können, ehe sie einen zweiten -«
»Gerritz!« Francois' Stimme klang wie ein Peitschenknall.
Der Steuermann zuckte zusammen. »Verzeihung, Herr Kommandeur«, murmelte er, »das war ungehörig, doch -«
»Ich will kein Wort mehr hören«, winkte Francois zornig ab.
»Begebt Euch unter Deck, bevor ich mich vergesse.«
»Wir sind alle erschöpft und gereizt«, murmelte Jakobsen, nachdem Gerritz verschwunden war. »Vielleicht solltet Ihr Euch ein wenig ausruhen, Herr Kommandeur. Ihr wirkt angestrengt und übermüdet.«
»Mir geht es gut«, fuhr Francois ihn an. »Mir ginge es allerdings noch besser, wenn ich wüsste, dass wir jemals unser Ziel erreichten.«
Er wandte sich um und starrte in die Wellen, die hie und da mit Seetang durchzogen waren. Irgendwo in der Nähe ist Land, dachte er, irgendwo sind diese verwünschten Inseln, und wenn Adriaen Jacobs sich an Bord dieses Schiffes befände, wären wir längst da.
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XXIX
Fortuna, das Schicksal, Glück, Pech, Gott, Teufel - wie austauschbar wir sind! Wie beliebig der Mensch uns zitiert, wenn er sich selbst nicht versteht!
Wenn etwas Gutes geschieht, stammt es von Gott. Meine Meinung dazu kennen Sie, die muss ich nicht wiederholen.
Bei Missetaten ist es an mir, den Buckel hinzuhalten (selbst bei den Menschen, die gar nicht glauben, dass es mich gibt).
Dazwischen rangiert das Schicksal, einst als launenhafte Dame, heute als wesenloses Etwas, das Glück oder Pech beschert.
Bisweilen müssen auch die Sterne für ein Geschehnis herhalten oder für eine bestimmte Spielart menschlichen Verhaltens. Sterne! Das sind Gaskugeln im All! Aber bitte, warum nicht? Genauso gut könnten jedoch auch Steine, Wurzeln, Tannennadeln und Sandkörner als Erklärung dienen.
Damit ist es aber bei weitem nicht genug. Auch Haarfarben, Augenfarben, Handtellerlinien, Fingerformen, Ohrläppchen werden wahllos als Erkenntnishilfen bemüht, um nur ja eines nicht zu tun: Um nicht zugeben zu müssen, dass etwas aus einem selbst heraus geschieht, womöglich sogar das Schlechte und das Schwache.
Ich versuche mir bisweilen einen Reim auf dieses Entlastungsstreben
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