Zorn des Loewen
dem Riff. Nur fünfeinhalb Meter tief.«
»Das könnte der Fleur de Lys den Boden weghauen«, warf Guyon ein.
Mallory zuckte mit den Schultern: »Ist doch de Beaumonts Boot, nicht meins.«
Guyons Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen: »Dann schlage ich vor, daß du das Ruder übernimmst.«
Mallory änderte den Kurs um einen Strich. Der junge Franzose ging die Treppe zum Salon hinunter und kam mit zwei Rettungswesten zurück.
»Als ich ein kleiner Junge war, hat eine Zigeunerin meiner Mutter gesagt, daß ich mich immer vor Wasser in acht nehmen sollte. Ist natürlich abergläubischer Unsinn. Mein bretonisches Blut jedoch sagt etwas anderes. Ich fände den Gedanken entsetzlich, daß ausgerechnet heute mir das Wasser zum Verhängnis werden könnte.«
Mallory stellte den Autopiloten ein, glitt mit seinen Armen durch die Träger der Rettungsweste und übernahm dann wieder das Ruder. Sie befanden sich jetzt auf einem Kurs parallel zu den Inseln. Die Fleur de Lys tanzte in den wirbelnden Wassern, und die Wellen schlugen heftig gegen ihren Körper.
Immer noch hämmerte der Regen gegen das Fenster, und das Wasser rann in Schleiern daran herunter, wobei die Umrisse aller festen Gegenstände verschwammen und der ganzen Szenerie ein traumartiges Gepräge verlieh. Sie fuhren sehr dicht an der Île de Yeu entlang. Weiße Gischt toste schäumend über den ausgezackten Rücken des Riffs.
Mallory riß das Steuer hart nach Backbord. Die Fleur de Lys erzitterte, eine Welle schlug gegen ihren Rumpf, und das Deck legte sich schräg. Guyon flog quer durch das Ruderhaus, und Mallory fiel auf die Knie. Das Ruder wirbelte heftig herum, aber schon rissen seine Hände es in die richtige Position zurück. Als er die Spitze des Schiffs herumholte, schlingerte es vorwärts in das klare Wasser hinein, das sich wie ein Band zwischen dem Riff und der Insel hinzog.
Er drehte die Maschinen voll auf. Die Fleur de Lys reagierte hervorragend. Sie näherten sich mit nie für möglich gehaltener Geschwindigkeit der Einfahrt der angepeilten Fahrrinne. Dann waren sie auch schon drinnen. Die See toste zu beiden Seiten über die mächtigen Felsen. Um sie herum tauchten Felsspitzen auf und wieder unter, die Wellen schäumten über sie hinweg. Raoul Guyon hielt sich mit blassem Gesicht krampfhaft am Kartentisch fest.
Unvorhersehbare, wechselnde Strömungen rissen am Ruder, und einen unheimlichen Augenblick lang schwankte das Boot nach Backbord. Mallory warf das Ruder herum. Durch den ganzen Bootskörper lief ein leichtes, hörbares Zittern, als er über eine Sandbank schrammte; dann befanden sie sich wieder in offenen Gewässern.
Nebelschwaden schwebten vom Land her. Der faulige Geruch des Sumpflandes, der vom ablandigen Wind zu ihnen getragen wurde, stieg den beiden Männern in die Nase. Mallory drosselte die Maschinen, die tieftönend rumpelten, während sie das Boot weitertrieben.
Das Marschland tauchte vor ihnen aus dem Nebel auf, dunkel und unheimlich, darauf lauernd, sie aufzunehmen. Über ihnen zog ein Schwarm Gänse wie vom Wind getriebene Totengeister entlang. Aus dem Wasser hoben sich lange, schmale Sandbänke, und landeinwärts zog sich kilometerlang rauhes, grasbewachsenes Marschland, ein Labyrinth von Wasserarmen, Sumpf und ein Sperriegel aus wogendem Schilfgras.
Sie umfuhren die Spitze einer Sandbank und erblickten die Öffnung des Flußarmes vor sich. Guyon beugte sich vor und stieß einen Warnruf aus. Direkt an der Einfahrt in den Fluß lag die Alouette wie ein gestrandeter Wal. Ihr grauschwarzer metallener Panzer glänzte feucht. Fenelon stand zusammen mit Jacaud im Kommandoturm, und sie beobachteten drei Matrosen, die damit beschäftigt waren, einen Außenbordmotor am Heck des geräumigen Schlauchbootes festzumachen.
Mallory ließ die Fleur de Lys m it Vollgas vorwärtsjagen. Ihre Bugwelle schwappte quer über den Rumpf des U-Bootes und riß einen Matrosen in das Wasser. Ein entsetzter Schrei ertönte. In kaum drei Meter Abstand rasten sie am U-Boot vorüber. Mallory sah das blanke Entsetzen auf Fenelons Gesicht geschrieben, und Jacaud verzog ungläubig die Stirn. Da waren sie auch schon vorbei und im schützenden Nebel verschwunden.
Mallory verringerte die Geschwindigkeit auf knapp zehn Stundenkilometer und öffnete das Fenster. Nebelfetzen trieben herein, scharf und kalt. Der Engländer starrte gebannt in das Halbdunkel und beobachtete das Schilf, das an ihnen vorbeitrieb.
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