Zorn: Thriller (German Edition)
in den Neunzigerjahren in Belgrad oder Zagreb hochaktiv war, kann er durchaus gewisse Dinge gesehen haben und deswegen in den Augen anderer eine Bedrohung darstellen.«
»Es ist beispielsweise denkbar, dass er der Einzige ist, der das neue Gesicht eines paramilitärischen Führers identifizieren kann«, fügte Jutta Beyer an.
»Und nicht nur dort«, wandte Sifakis ein, den Blick fest auf den Bildschirm gerichtet. »Nahezu an jedem Ort, wo er eine Praxis für plastische Chirurgie eröffnet hat, schien er das Verbrechen förmlich anzuziehen. Sein Name kommt in diversen Ermittlungszusammenhängen vor, er wird als Augenzeuge, Erkennungszeuge und manchmal auch als Experte genannt. Dabei reicht die Bandbreite der Verbrechen von Erpressung bis hin zum Handel mit Menschenhaut und anderen Organen. In den Protokollen werden Menschenhandel sowie mehrere Fälle von Korruption in Brasilien und Thailand angeführt. Hinzu kommt eine Reihe von kuriosen Verbrechen wie organisierter Diebstahl von Leichen, Kokainhandel und, tja, Kannibalismus, ganz zu schweigen von der bizarren Geschichte, wie eine große Anzahl von Schaufensterpuppen mit Menschenhaut überzogen in einem eisgekühlten Container um die halbe Welt transportiert wurde. Und das sind nur einige Beispiele.«
»Kein Wunder, dass er in Forscherkreisen nicht gerade beliebt war«, sagte Miriam Hershey.
»Da ist es doch erstaunlich, dass er umgehend und gnädig wieder aufgenommen wurde«, merkte Laima Balodis an. »Kaum dass er altersschwach und tattrig das Skalpell aus der Hand legte, war er schon wieder Forscher und Professor. Als wären zwanzig Jahre in unmittelbarer Nähe zu diversen Verbrechen lediglich ein Zwischenspiel gewesen.«
»Andererseits«, wandte Marek Kowalewski ein, »war er auf einem Gebiet tätig, das allerhand Verbrechen anzieht, ohne selbst ein einziges Mal wegen auch nur des geringsten Verstoßes, ja nicht einmal wegen einer falschen Behandlung angeklagt zu werden. Eine wohlwollende Deutung der Fakten wäre, dass er international Großes geleistet hat, indem er sein Wissen an Entwicklungsländer und an Staaten übermittelt hat, die ihr gerne als zurückgebliebene Ostblockstaaten bezeichnet.«
»Wer ist wir?«, rief Jutta Beyer aus.
»Ihr Westeuropäer.« Kowalewski lächelte mild.
»Aber nirgendwo steht etwas über Terroristen?«, fragte Arto Söderstedt. »Nicht die geringste Andeutung?«
»Nein«, antwortete Sifakis. »Nahezu alles andere wird erwähnt, aber das nicht.«
»Könnte das auch ein vielsagendes Nichterwähnen sein?«, fragte Paul Hjelm.
»Möglicherweise«, antwortete Sifakis. »Aber das ist nur eine Vermutung.«
Hjelm nickte und fasste zusammen: »Offenbar gehörte es zu Massicottes Beruf als freier Unternehmer, dass er immer wieder mit Kriminalität konfrontiert wurde, oder?«
Ein zustimmendes Gemurmel war die Antwort.
»Dann wenden wir uns seinem Privatleben zu«, fuhr Navarro fort und richtete seinen Blick auf Kowalewski.
»Ja«, sagte der zögerlich. »Die Frage nach Massicottes Privatleben zum Zeitpunkt seines Todes scheint eher unerheblich zu sein.«
»Professor Udo Massicotte muss seine Ehe sehr viel bedeutet haben«, erklärte Corine Bouhaddi. »Er hat seine Ehefrau bereits während des Studiums 1968 geheiratet, da war er vierundzwanzig Jahre alt. Und erst auf ihre alten Tage, nach mehr als vierzig Jahren, wurden sie Anfang dieses Jahres wieder geschieden. Wir haben versucht, die Witwe zu erreichen, doch sie scheint sich seit der Scheidung im Ausland aufzuhalten. Es gibt keine Kinder und keine näheren Verwandten oder Freunde. Wir haben lediglich eine entfernte Bekannte aufgetan, die meinte, gehört zu haben, dass sich die Exfrau, Mirella Massicotte, auf Fuerteventura aufhält. Und in der Tat ist sie im Februar dieses Jahres über den Flughafen bei Puerto del Rosario auf die Kanaren geflogen. Da sie die Insel noch nicht wieder verlassen hat, haben wir eine Anfrage an die lokale Polizei dort geschickt. Bisher gibt es allerdings noch keine Antwort.«
»Andererseits waren sie geschieden«, merkte Kowalewski an. »Allem Anschein nach wollten sie nichts mehr voneinander wissen, und die Witwe hatte offenbar auch nicht das geringste Interesse daran, wie ihr Exmann die letzten Monate seines Lebens verbracht hat.«
»Dennoch würden wir natürlich gerne mit ihr sprechen«, schloss Hjelm. »Aber jetzt wollen wir wissen, ob es irgendetwas Bemerkenswertes im früheren Privatleben des Professors gibt. Felipe?«
»Tja«, sagte
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