Zorn - Tod und Regen
sich eine Zigarette. Er hatte vergessen, was er von Schröder gewollt hatte, und fragte stattdessen: »Was gibt’s Neues?«
»Ich habe das Blut noch mal genau untersuchen lassen.«
»Und?«
»Keinerlei Korditspuren und so gut wie keine Knochensplitter.«
»Das bedeutet, sie ist nicht erschossen worden«, erwiderte Zorn.
»Und höchstwahrscheinlich nicht erschlagen.«
»Sonst noch was?«
»Allerdings, Chef.«
Schröder machte eine Pause, die wohl bedeutungsvoll sein sollte.
»Ich gebe dir eine Sekunde, Schröder, oder du fährst ab morgen Streife.«
»Schmerzmittel!«, kam es wie aus der Pistole geschossen.
»Was?« Zorn richtete sich auf.
»Sie war vollgepumpt mit Schmerzmitteln.« Zorn hörte, wie Schröder mit einigen Papieren raschelte. »Buprenorphin, Chef.«
»Was?«, wiederholte Zorn.
»Ein handelsübliches Schmerzmittel. Rezeptpflichtig, aber leicht zu beschaffen.«
»Wann kann sie das eingenommen haben?«
»Gar nicht. Jedenfalls nicht selbst. Die Menge hätte ein Rhinozeros umgehauen, und es ist eindeutig, dass das Medikament kurz vor dem Tode verabreicht wurde.«
»Das bedeutet, dass der Typ ihr das Schmerzmittel gegeben hat, während sie verblutet ist?«
»Wenn wir von einem Mord ausgehen, ja.«
»Das tun wir«, erwiderte Zorn.
»Natürlich.«
»Wir sehen uns morgen um neun«, bestimmte Zorn. Und da Schröder nicht antwortete, fügte er barsch hinzu: »Und sei gefälligst pünktlich.«
»Sehr wohl, Chef«, sagte Schröder, der – im Gegensatz zu Zorn – niemals auch nur eine Sekunde zu spät zum Dienst erschien, und legte auf.
*
Die nächsten drei Stunden starrte Zorn rauchend vor sich hin, hörte Musik und dachte an irre Mörder, die ihre Opfer betäuben, um ihnen das Leiden zu ersparen.
Der Hauptkommissar konnte nicht wissen, dass der, der das getan hatte, keine fünf Kilometer von ihm entfernt ebenfalls in den Regen starrte. Tränen liefen über sein Gesicht und später, als er seine Wut in die Nacht hinausschrie, hatte Claudius Zorn das müde Ermittlerhaupt längst zur wohlverdienten Ruhe gebettet.
Vier
Die Morgentoilette des Claudius Zorn bestand aus einem Griff zur Zahnbürste, mit der er sich lustlos das Gebiss schrubbte, während er gleichzeitig pinkelte, und dann die Kaffeemaschine ansetzte. Abgeschlossen wurde diese Zeremonie durch einen Spritzer lauwarmen Wassers ins Gesicht, worauf ein letzter Blick in den Spiegel folgte.
Er fuhr sich mit den gespreizten Fingern durchs Haar. »Du kannst zufrieden sein, Zorn«, sagte er laut zu seinem Spiegelbild, »du siehst verdammt gut aus, obwohl es dir egal ist. Du hast keine Geheimratsecken und könntest noch immer die Jeans anziehen, die dir vor zwanzig Jahren gepasst haben. Du bist zwar ein bisschen verquollen, liegt aber daran, dass du kaum geschlafen hast.« Er strich sich über die Wangen. »Und du könntest dich rasieren. Aber wie ich dich kenne, hast du dazu keine Lust.«
Wie immer war sein Hunger nach einer Zigarette größer als der Appetit auf etwas Essbares, und so stand er rauchend mit der Kaffeetasse am Fenster und stellte zum tausendsten Male fest, dass die Stadt tief unter ihm im trüben Morgenlicht nicht besser aussah als in der Abenddämmerung.
Immerhin, dachte er, das Wetter hat sich geändert. Was insofern stimmte, als der Wind über Nacht gedreht hatte, die schmutzig grauen Wolken nun von Osten über die Stadt jagten und der Regen jetzt aus einer anderen Richtung gegen Zorns Fenster trommelte.
Im Aufzug roch es wie immer muffig, nach einer undefinierbaren Mischung aus abgestandener Kartoffelsuppe und schmutziger Wäsche. Er drückte den Knopf fürs Erdgeschoss und verdrehte genervt die Augen, als der Fahrstuhl bereits nach zwei Stockwerken anhielt. Zorn kannte so gut wie niemanden in diesem riesigen Haus, und er legte auch keinen Wert darauf. So zog er sich instinktiv in die hinterste Ecke zurück, als die Tür aufging und eine junge Frau den Aufzug betrat.
Er schätzte sie auf Mitte zwanzig. Sie war relativ groß, fast so groß wie Zorn, hatte schulterlanges, dunkles Haar und trug eine Regenjacke, die mindestens vier Nummern zu groß für ihren mageren Körper schien.
»Hi«, sagte sie fröhlich, steckte die Hände in die Hosentaschen, lehnte sich gegen die Wand und musterte ihn von oben bis unten. Es kam oft vor, dass er angesprochen wurde, und im Laufe der Zeit hatte er einen Blick dafür bekommen, ob eine Frau Interesse an ihm zeigte oder nicht – zumindest glaubte er das. Wenn ihm danach war,
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