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Zorn - Tod und Regen

Zorn - Tod und Regen

Titel: Zorn - Tod und Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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versuchte, sich zu orientieren, starrte angestrengt in den hinteren Teil der Bar und hoffte, Sauer auszumachen. Was ihm aus drei Gründen nicht gelang: Es war dunkel, die meisten Gäste saßen mit dem Rücken zur Tür, und selbst wenn dies alles nicht der Fall gewesen wäre, hätte Zorn aufgrund seiner Kurzsichtigkeit so gut wie nichts erkannt.
    Jetzt fiel ihm ein, dass er absolut nicht wusste, was er tun sollte, wenn er dem Staatsanwalt tatsächlich gegenüberstand. Er konnte das Ganze schlecht auf einen Zufall schieben, und Sauer, das war Zorn klar, würde nichts unternehmen, solange er sich beobachtet fühlte. Der Sinn einer Beschattung war nun einmal, unerkannt zu bleiben.
    »Bist du neu hier?« Der Barkeeper hatte die Hände auf den Tresen gestützt und lächelte Zorn an. »Ich hab dich hier noch gar nicht gesehen.«
    »Nee. Das heißt, ja«, verbesserte sich Zorn. »Ich suche einen Freund.«
    Das Lächeln des Barmannes wurde breiter. »Freunde findest du hier viele.«
    Er hat genauso weiße Zähne wie Sauer, dachte Zorn und setzte sich auf einen der verchromten Barhocker. Im Hintergrund war ein hohes, schrilles Männerlachen zu hören. Der Barkeeper stellte eine kleine Porzellanschüssel mit Erdnüssen auf den Tresen.
    »Kann ich hier rauchen?«, fragte Zorn und suchte in den Hosentaschen nach seinen Zigaretten.
    »Leider nicht.«
    »Und die Toilette?«
    »Ganz hinten rechts. Wenn du was trinken willst«, der Barmann reichte ihm eine Getränkekarte, die ungefähr so dick wie das Telefonbuch einer mittleren Kleinstadt war, »such dir was aus.« Zorn schlug die Karte aufs Geradewohl auf. Es musste hier Hunderte verschiedene Cocktails geben.
    »Mai Tai«, sagte Zorn, der keine Ahnung hatte, was er da bestellte. Er stand auf und begab sich in den hinteren Teil der Bar.
    Schön unauffällig bleiben, dachte er und schlängelte sich langsam zwischen den Sesseln hindurch. Blieb dabei immer wieder stehen und musterte die Gäste aus den Augenwinkeln. Die meisten der Anwesenden waren gut, aber unauffällig gekleidet, überwiegend in Jackett und Anzug, saßen zu zweit oder zu dritt um die Tische und unterhielten sich leise. Er fühlte sich unbehaglich, obwohl er, soweit er das beurteilen konnte, völlig ignoriert wurde. Eine Frau konnte er nirgends entdecken, und als Zorn die Toiletten erreichte, war er sicher, dass Staatsanwalt Sauer nicht hier war.
    Er schloss die Tür hinter sich, lehnte sich an das auf Hochglanz polierte Edelstahl-Waschbecken und atmete tief durch. Fast hätte er vergessen, dass er wirklich pinkeln musste, und nachdem das erledigt war, wusch er sich hastig die Hände. Er wusste, dass es Blödsinn war, und doch rechnete er damit, dass jeden Moment ein bärtiger, in Lack und Leder gekleideter Riese hereinkommen würde, um ihn nach Strich und Faden zu vernaschen.
    Neben dem Klo befand sich eine weitere Tür. Er prüfte sie unauffällig und stellte fest, dass sie verschlossen war. Verdammt, dachte Zorn, er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben, und schlenderte betont gelangweilt zurück in Richtung Tresen.
    Kaum hatte er Platz genommen, stellte der Barmann ein großes, mit einer trüben, gelblich-braunen Flüssigkeit gefülltes Glas, in dem ein paar Eiswürfel klimperten, vor ihm ab. Zorn nippte und verzog angewidert das Gesicht. Das Einzige, was er schmeckte, waren Unmengen Alkohol, Zucker und ein kaum wahrnehmbares Orangenaroma.
    »Und? Schmeckt’s?« Der Barkeeper lächelte.
    Wenn ich das ausgetrunken hab, überlegte Zorn, kippe ich bewusstlos vom Hocker. Ich sollte langsam nachdenken, wie ich hier heil wieder rauskomme. »Total lecker«, entgegnete er und grinste zurück. Er spürte, wie sich hinter ihm die Tür öffnete. Ein kalter Windzug wehte herein, kurz darauf nahm jemand direkt neben ihm Platz. Zorn hob den Blick und traute seinen Augen nicht.
    »Einen Prosecco«, sagte der dicke Schröder, bedachte Zorn mit einem knappen Nicken und nahm sich die Getränkekarte, um sie aufmerksam zu studieren. Er trug eine Schirmmütze aus dunkelblauem Kunstleder, die er sich tief in die Stirn gezogen hatte. Zorn stellte entsetzt fest, dass er sein kariertes Baumwellhemd bis zum Nabel aufgeknöpft hatte, sodass sein umfangreicher Bauch noch deutlicher als sonst zur Geltung kam. Und konnte es sein, dass seine Wangen ein wenig rosiger, die Lippen ein wenig voller und die Augen ein wenig stärker betont waren als sonst? Mein Gott, dachte Zorn, jetzt ist er völlig durchgeknallt. Er hat sich tatsächlich

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