Zorn und Zärtlichkeit
Vater wenden - nicht an mich. Mir sind in dieser Angelegenheit die Hände gebunden.«
»Da irrt Ihr Euch! Ihr könntet sie anständig behandeln, wenn Ihr nur wolltet.«
»Aber das will ich nicht. Warum sollte ich auch? Ich bin ein bösartiger Barbar - oder hast du das vergessen?«
»Dann muss ich diese Hochzeit verhindern.«
»Dafür wäre ich dir sehr dankbar - aber wie willst du das anfangen?«
»Ich lasse Euch frei«, antwortete Niall nach einer kleinen Pause. »Das ist die einzige Möglichkeit. Wenn Ihr nicht mehr da seid, ist meine Schwester sicher vor Euch.«
Jamie sprang auf. Er konnte seine Erregung kaum verbergen. »Meinst du das ernst, Junge?«
»O ja!«
»Wann?«
»Jetzt - solange alle anderen schlafen.«
Die Strickleiter glitt herunter und näherte sich Jamies ausgestreckten Händen, doch bevor er danach greifen konnte, wurde sie wieder ein Stück nach oben gerissen. Jamie seufzte tief enttäuscht auf. »Was für ein grausames Spiel treibst du mit mir?«
»Es ist kein Spiel«, beteuerte Niall. »Aber soviel ich mich erinnere, wolltet Ihr Eure Hände um meinen Hals legen. Werdet Ihr mich töten, wenn Ihr frei seid?«
Jamie lachte. »Du hast nichts zu befürchten, mein Junge. Wenn du mir zur Flucht verhilfst, bin ich dein Freund bis an mein Lebensende.«
Die Strickleiter wurde herabgelassen, und Jamie kletterte schnell hinauf.
»Ihr seid ja noch größer, als ich dachte«, sagte Niall ehrfürchtig, als der Laird von MacKinnion neben ihm stand.
»Und du bist genauso ein Winzling, wie ich's mir vorgestellt habe«, entgegnete Jamie. »Zeig mir jetzt, wo der Stall ist, und dann...«
»Nein, da dürft Ihr nicht hingehen!« unterbrach ihn Niall erschrocken. »Dort schlafen mehrere Leute. Man würde Euch erwischen, und ich hätte dieses Wagnis umsonst auf mich genommen.«
»Ohne mein Pferd gehe ich nicht. Keine Angst, mein Junge. Ich werde niemanden töten, solange es sich vermeiden läßt. Aber wenn man mich wieder in dieses dunkle Loch sperren will, muss ich mich natürlich wehren.«
»Man wird Alarm schlagen.«
»Das spielt keine Rolle. Sobald ich mein Pferd habe, können sie mich nicht mehr einfangen. Mach dir keine Sorgen.«
Niall führte den Laird von MacKinnion widerstrebend durch die Vorratskammern in die Richtung des Hofs. »Ich sorge mich meinetwegen, MacKinnion«, gab er zu, »Ihr werdet bald über alle Berge sein - aber ich bleibe hier und muss die Schuld auf mich nehmen.«
»Du kannst mich begleiten, Junge.«
»Ich bin kein Verräter!« protestierte Niall entsetzt. »Und ich lasse Euch nur laufen, um meine Schwester zu retten. Sonst würde ich es nicht tun.«
»Das weiß ich«, entgegnete Jamie zögernd. »Und-um ehrlich zu sein - deine älteste Schwester ist gar nicht...«
Er fand keine Gelegenheit mehr, sein Geständnis zu beenden, denn in diesem Augenblick erschien ein Licht auf der Kellertreppe, und Niall zog ihn rasch zwischen zwei große Mehlfässer.
»Niall!« rief eine Mädchenstimme. »Niall, wenn du da unten bist, antworte mir! Niall!«
»Wer ist das?« wisperte Jamie.
»Meine Schwester. Wahrscheinlich war sie in meinem Zimmer und hat gesehen, dass ich nicht im Bett liege. Deshalb sucht sie mich.«
Jamie richtete sich ein wenig aus seiner geduckten Haltung auf. »Das Mädchen, dem du solch ein Opfer bringst, möchte ich mal sehen.«
»Nein!« In panischer Angst griff Niall nach seinem Arm und zerrte ihn wieder nach unten. »Sie wird schreien, wenn sie Euch sieht, und Euch verraten, bevor Ihr den Hof erreicht! Man wird Euch hier unten umzingeln, und Ihr habt nicht einmal eine Waffe.«
Widerwillig gab Jamie nach. »Ja, du hast wohl recht. Übrigens, da du gerade davon sprichst - ich brauche eine Waffe.«
»Ich kann Euch nicht helfen, meine Clansleute zu töten, MacKinnion.«
»Sicher, du hast bereits genug für mich getan. Ich werde mich schon zu wehren wissen.« Jamie hatte ein Brett entdeckt, das er an sich nehmen wollte, sobald der Weg über die Treppe nach oben frei war.
Aber das Licht erlosch nicht. Erst nach einer ganzen Weile wurde es etwas schwächer, und eine zweite Stimme klang auf.
»Was machst du hier mitten in der Nacht?«
Jamie hörte den Jungen an seiner Seite leise stöhnen.
»Wer ist denn das?«
»Mein Vetter William.«
»Wird er herunterkommen?«
»Keine Ahnung... Pst!«
»Nun, liebe Kusine?« fragte der Mann.
»Ich wollte nur...«, begann das Mädchen, um dann ärgerlich zu fauchen: »Das geht dich nichts an, Willie!«
»Wolltest du
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