Zorn
hinteren Seite des Postamts. Der Angestellte von zuvor hatte um sieben Uhr Dienstschluss gehabt, und der neue war der Ansicht, dass es kein Verstoß gegen die Vorschriften war, wenn er Lucas mit den Leuten sprechen ließ, die die Post in Fächer einsortierten. Der neue Angestellte stellte ihm vier Briefträger vor, in deren Bezirk die South Side lag.
Zwei von ihnen hatten den Verrückten gesehen.
Einer von ihnen wusste, wo er lebte.
VIER
Lucas war hin- und hergerissen: Er konnte das, was er herausgefunden hatte, dem diensthabenden Beamten der Mordkommission mitteilen oder selbst weiterermitteln. Wäre er Detective gewesen, hätte er im Revier angerufen und Hilfe angefordert.
Aber als Streifenpolizist, der nur vorübergehend in Zivil agierte, wurde der Fall ihm vermutlich entzogen und an Kollegen mit mehr Ermittlungserfahrung übergeben.
Das war schon einmal passiert, und er wollte es nicht wieder erleben. Er kehrte zu seinem Jeep zurück. Daniel hielt sich bestimmt noch nicht im Büro auf, und da er seine einzige Anlaufstelle in dieser Sache war, fühlte Lucas sich berechtigt, auf eigene Faust weiterzumachen, bis Daniel ihn von dem Fall abzog.
Oder bis Lucas sich in Aschenputtel zurückverwandelte und wieder in seine Uniform schlüpfen musste.
Er war jetzt zwanzig Stunden auf den Beinen, fühlte sich jedoch noch einigermaßen klar im Kopf. Lucas kletterte in den Jeep und fuhr zum Mississippi, ein ganzes Stück flussabwärts von der Stelle, an der er nach den Mädchen hatte suchen sollen.
Der Verrückte mit dem Basketball, hatte der Briefträger gesagt, hause in zwei mit Plastik geschützten Kühlschrankkartons in einem ausgespülten Hohlraum unter einer Eiche. Die dicken, knorrigen Baumwurzeln bedeckten die Kisten, und die Plastikplanen hielten den Regen ab.
Die Stelle sei ganz leicht zu finden, hatte der Briefträger behauptet, weil sie sich hinter einem Maschendrahtzaun ein paar hundert Meter nördlich der Lake Street befinde. »Gleich in der Nähe ist ein großes gelbes Haus, das einzige dort, und ungefähr vierzig oder fünfzig Meter entfernt ist ein Loch unter dem Zaun, wo man durchkriechen kann. Einen anderen Penner hab ich in der Gegend nicht gesehen.«
Allmählich wurde es warm; ein weiterer heißer Tag kündigte sich an. Lucas fuhr den West River Parkway entlang, in eine Gegend mit älteren, gepflegten Häusern wohlhabender Leute, Blumengärten und hohen Bäumen mit tief herabhängenden Ästen. Er stellte seinen Jeep im Parkverbot südlich von dem gelben Haus ab und legte seinen Polizeiausweis aufs Armaturenbrett. Als er ausstieg, rief ihm ein Mann, der gerade seine Star Tribune ins Haus holte, zu: »Hier können Sie nicht parken.«
»Ich bin von der Polizei«, erklärte Lucas, ging zu ihm und nickte zum Felsvorsprung hinüber. »Angeblich haust da drüben unter dem Baum ein Obdachloser.«
»Der ist weg«, sagte der Mann. »Wir haben die Parkaufsicht geholt, und die hat ihn vor drei oder vier Wochen vertrieben.«
Verdammt. »Ich möchte einen Blick auf seine Behausung werfen.«
»Das können Sie, aber er ist nicht mehr da«, wiederholte der leicht übergewichtige Mann, der das gebräunte Gesicht eines erfolgreichen Anwalts hatte, und kam auf Lucas zu. Er trug Sandalen, ein T-Shirt und eine Sporthose und hatte die schwarzen Haare mit Gel nach hinten gekämmt. Ein wenig erinnerte er Lucas an Jack Nicholson. »Hier lang.«
Als Lucas ihm folgte, erkundigte sich der Mann: »Worum geht’s eigentlich?«
»Um vermisste Kinder«, antwortete Lucas.
»Die Mädchen? Hat er sie entführt?«
»Das ist noch nicht raus«, sagte Lucas. »Haben Sie den Mann jemals in der Nähe von Kindern beobachtet?«
»Nein, nie. Ich hab ihn sowieso nicht oft gesehen. Ich gehe normalerweise spätestens um acht aus dem Haus und komme erst so gegen sechs wieder heim. Meine Frau sagt, er wär immer irgendwann am Vormittag unter dem Zaun durchgeschlüpft, aber wir haben ihn nie zurückkommen sehen. Wahrscheinlich war’s da schon dunkel.« Der Mann deutete über die Straße auf eine alte Eiche mit dichten Ästen. »Unter dem Baum da. Ein Stück weiter die Straße runter ist eine Stelle, wo man unter dem Zaun durchkriechen kann. Nicht ganz ungefährlich für die Kleidung.«
Lucas schrieb Namen und Telefonnummer des Mannes in sein Notizbuch: Art Prose. »Ich würde mich gern mit Ihrer Frau unterhalten – ich brauche eine ordentliche Beschreibung von dem Penner«, erklärte Lucas. »Ist sie da?«
»Klar. Ich sage ihr, dass
Weitere Kostenlose Bücher