Zorn
Sie kommen. Sie heißt Alice. Ich bin noch ungefähr eine halbe Stunde zu Hause.«
Lucas betrachtete den Baum durch den Maschendrahtzaun. Auf dem Hang dahinter lagen Toilettenpapier, leere Essensbehälter und eine weiße Plastikgabel. Ansonsten konnte er die Kanten der Kartons erkennen, nicht viel mehr.
Ein Stück weiter entdeckte er den Durchschlupf, wo Wasser vom Gehsteig über den Felsvorsprung zum Fluss geflossen war. Wenn er hier durchkroch, dachte Lucas, würde er sich schmutzig machen, aber egal. Er zog sein Sakko aus, hängte es über einen Ast und schlüpfte so vorsichtig wie möglich unter dem Zaun hindurch.
Ein schmaler Weg, nicht breiter als dreißig Zentimeter, führte von dem Durchschlupf zu dem Baum. Die Flussböschung war so steil, dass Lucas sich am Gestrüpp festhalten musste.
Der riesige Baum neigte sich leicht dem Fluss zu; die ihm zugewandten Wurzeln ragten in die Luft, und zwei leere Kartons waren dazwischengeklemmt und bildeten so etwas wie eine Höhle. Darüber lag eine dicke durchsichtige Malerplane aus Plastik. Eine Ecke der Plane war zu einer Röhre gerollt, die das Wasser auf der oberen Seite der Kartons sammelte und den Abhang hinunterleitete.
Eine der Kisten war horizontal hineingeschoben und lang genug zum Schlafen. Die andere, kürzere, stand aufrecht und reichte zum Sitzen. Rund um die Kartons lagen Plastik- und Papierabfälle, Seiten aus Zeitungen und Zeitschriften. Ein grünes Bic-Feuerzeug steckte in einem Busch an der Böschung. Am unteren Ende des Abhangs erkannte Lucas verrottendes Toilettenpapier hinter einem Busch – hier verrichtete der Mann offenbar sein Geschäft.
Das Wasser, das unter dem Baum hindurchfloss, sammelte sich in einer seichten Rinne und spülte die Toilette wahrscheinlich von Zeit zu Zeit durch.
An den Kisten fiel Lucas nichts Besonderes auf, aber er würde dennoch die Kollegen informieren müssen – vielleicht befanden sich daran Fingerabdrücke oder andere Spuren. Er kniete sich hin, um besser in die Kartons hineinschauen zu können. Dabei entdeckte er am hinteren Ende der Bettenbox eine Nische. Wie ein Schrank, dachte er. Kurz überlegte er, ob er sich etwas holen könnte, wenn er in die Kiste kroch, tat es dann aber einfach.
Noch nach einem Monat war der Mann zu riechen. Lucas atmete durch den Mund, doch das nützte nicht viel. Er zog die Klappe von innen auf. Die Nische war tatsächlich so etwas wie ein Schrank gewesen, ein Loch in der Erde, jetzt leer.
Lucas öffnete die Klappe weiter und entdeckte Papier, das zwischen dem Karton und der Erde dahinter klemmte. Er zog es heraus, verkehrt herum, wie sich herausstellte.
Als er es umdrehte, entschlüpfte ihm ein: »Herr im Himmel.«
Es handelte sich um ein Pornofoto, herausgerissen aus einem stümperhaft gedruckten Magazin. Die Frau – das Mädchen – auf dem Bild war sehr jung oder sah zumindest so aus und saß mit zurückgeworfenem Kopf rittlings auf einem Mann, dessen Penis sie deutlich sichtbar penetrierte.
Lucas legte das Foto auf den Boden der Kiste und kroch vorsichtig heraus.
Draußen wischte er sich die leicht zitternden Hände ab.
»Herr im Himmel«, wiederholte er. Er hatte tatsächlich etwas gefunden, war auf etwas Wichtiges gestoßen, und zwar allein. Ein solches Erfolgserlebnis hatte er seit seiner Eishockeyzeit nicht mehr gehabt.
Lucas hastete zu dem Loch im Zaun zurück, kroch darunter hindurch, nahm sein Sakko von dem Ast und rannte fast zum Haus der Proses. Als er an die Tür klopfte, öffnete Prose sie im Bademantel.
»Darf ich mal Ihr Telefon benutzen? Und dann muss ich mit Ihrer Frau sprechen.«
Er rief Daniel zu Hause an.
»Davenport?«, meldete sich dieser. »Hat das nicht bis nach dem Frühstück Zeit?«
»Ich glaube nicht«, antwortete Lucas. »Ich hab den Unterschlupf des Penners gefunden. Dort sind Pornofotos von ziemlich jungen Mädchen.«
»Wo sind Sie?«, fragte Daniel.
Lucas erklärte ihm den Weg.
»Ich bin in fünfzehn Minuten bei Ihnen«, sagte Daniel. »Bleiben Sie dort, und lassen Sie niemanden in die Nähe. Verstanden?«
»Verstanden.«
Am Ende saß Lucas dann auf der Veranda der Proses und unterhielt sich mit Alice Prose, einer großgewachsenen Frau mit sandfarbenen Haaren, die ihn an eine englische Schullehrerin erinnerte, und trank Orangensaft. Alice beschrieb ihm den Penner: groß, nicht alt, von der Sonne verbranntes, wettergegerbtes Gesicht, braun-graue Haare, die ihm bis in den Nacken reichten, Vollbart. Er trug eine Baseballkappe mit
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