zorneskalt: Thriller (German Edition)
Wochenende in der Mail on Sunday. Sie glauben es, aber ich nicht.«
Auf dem Gehweg waren Schritte zu hören, dann wurde das Gartentor geöffnet. Ein Mann, der ein kostenloses Anzeigenblatt verteilte, kam durch den Vorgarten. Sie wand sich sichtlich und schüttelte den Kopf in seine Richtung, und er ging davon. Ich sprach lauter, sodass er mich trotz des Regens hörte.
» Sie verstehen nicht, dass Sie so lange mit jemandem leben konnten, ohne etwas zu ahnen. Aber ich weiß, wie geschickt Leute sein können, wenn sie etwas wirklich geheim halten wollen.«
» Der Regen …«, sagte sie. » Manchmal denke ich, dass er nie mehr aufhören wird.«
» Ja, ich verstehe.« Er tropfte jetzt von mir herab, durchnässte mein Haar und lief von meiner Nase.
Sie spähte aus der Tür und drehte den Kopf nach links und rechts, um zu sehen, ob uns jemand beobachtete. Dann sagte sie: » Fünf Minuten, mehr nicht, und ich will nicht zitiert werden, ist das klar?«
» Natürlich.«
Eine Frau, die einen Kinderwagen am Gartentor vorbeischob, verrenkte sich den Hals, um zu sehen, mit wem Ann sprach.
» Schnell«, sagte sie und zog mich hinein, » bevor ich’s mir anders überlege.«
Im Wohnzimmer roch es nach Möbelpolitur und Raumspray, und die Spuren auf dem Teppich deuteten darauf hin, dass er vor Kurzem abgesaugt worden war. Auf der Fensterbank ein hübsches Arrangement aus Porzellanfiguren: ein Mädchen in Reifrock und Sonnenhut mit einem Lamm, eine zierliche Gärtnerin und ein Knabe mit Hund. Ein kleiner Korb mit getrockneten Blüten verbreitete unangenehm süßlichen Duft. Aus Bilderrahmen auf dem Kaminsims lächelten Kinder in Schuluniformen, und auf Hochzeitsfotos küssten sich Frischvermählte. Ein junger Mann bei der Überreichung eines Diploms. Eine Chronik glücklicher Familienereignisse. Kein einziges Foto von Ann. Keines von ihrem Ehemann.
Nachdem sie ein grünes Samtkissen unnötigerweise aufgeschüttelt hatte, bat sie mich mit einer Handbewegung, Platz zu nehmen. Dann verschwand sie in der Küche, in der sie den Teekessel aufsetzte und mit Geschirr klapperte. Wenig später kam sie mit einem Tablett zurück, auf dem Tassen und Untertassen, eine Teekanne und ein Teller mit Garibaldi-Keksen standen. Solche Kleinigkeiten waren ihr wichtig, jetzt vielleicht noch mehr als früher.
Ann setzte sich in den Sessel mir gegenüber, zog ihren Rock zurecht und schnippte einen imaginären Krümel von ihrem Schoß.
» Sie fragen sich vermutlich, wie ich so dumm sein konnte.« Ihre Stimme klang angespannt und brüchig.
» Daran habe ich nie gedacht«, sagte ich.
» Meine Freunde …« Sie lachte schwach. » Die wenigen, die noch kommen, sagen, dass sie mir glauben, aber es steht in ihrem Blick. Die Zweifel sind unverkennbar. Aber das kann ich ihnen nicht verübeln, ich wundere mich selbst darüber, wie ich die ganze Zeit mit ihm zusammenleben konnte, ohne das Geringste zu ahnen.« Sie sah weg, hob mit zitternder Hand ihre Tasse an die Lippen und nahm einen winzigen Schluck, bevor sie sie auf die Untertasse zurückstellte.
» Er war Ihr Mann«, sagte ich, so sanft ich konnte.
» Ich hatte fünf Kinder zu versorgen. Er hat immer lange gearbeitet, und wenn er heimgekommen ist, hat sein Abendessen auf dem Tisch gestanden. So war’s bei uns. Die Rollen waren klar verteilt. Wie die meisten Männer ist er ein paarmal pro Woche in den Pub gegangen. Das habe ich nie infrage gestellt. Er hat uns ernährt, hat niemals die Hand gegen mich oder die Kinder erhoben. Alles war so … so gewöhnlich .«
» Es ist schwierig, etwas zu finden, wenn man nicht danach sucht«, sagte ich. Mir fiel auf, wie grün ihre Augen waren, jetzt im Alter etwas wässrig, aber noch immer auffällig.
Ann nickte und fixierte mich mit prüfendem Blick. » Sie scheinen einfühlsamer zu sein als die anderen«, sagte sie. » Wenn man zu dicht an etwas dran ist, sieht man es nicht deutlich. Erst wenn man einen Schritt zurücktritt und es aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, bekommt alles einen Sinn.« Sie griff wieder nach Tasse und Untertasse und ließ ihre Hand darüber schweben, als treffe sie eine Entscheidung. » Blicke ich jetzt zurück«, sagte sie, » erkenne ich, dass mein ganzes Leben eine Lüge war.«
Ihr Bekenntnis überraschte mich, wie es so leichthin ausgesprochen wurde, obwohl sie noch immer sichtbar darunter litt. Während des Prozesses war sie schweigsam gewesen, hatte zu ihrem Mann gehalten.
Sie musste meine Überraschung bemerkt haben.
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