zorneskalt: Thriller (German Edition)
» ich treffe mich mit einer Informantin. Und ich nehme einen Kameramann mit.« Ich war weg, bevor er Fragen stellen konnte.
Der blaue Himmel, der frühmorgens so viel versprochen hatte, war hinter Wolken verschwunden. Als ich London verließ, wurden sie dichter und dunkler, bis der gesamte Himmel grau war. Auf der A10 begannen haselnussgroße Hagelkörner zu fallen. Sie zerplatzten auf der Frontscheibe wie Glaskugeln. Der Wagen vor mir zog eine Schleppe aus weißem Eis hinter sich her. Ich kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, damit ich nicht von der Fahrbahn abkam.
Ich legte den Kopf nach links und rechts und versuchte, die Verkrampfung zu lösen, die meine Gelenke versteift zu haben schien. Müdigkeit sickerte in meinen Kopf.
Was tat ich hier draußen auf der Fahrt ans Ende der Welt (oder Leigh-on-Sea, was aufs Gleiche rauskam)? Vordergründig war ich unterwegs, um zu versuchen, ein Interview zu bekommen, aber glaube ja nicht, dass ich Jonny und dich vergessen hätte. Der eigentliche Grund warst du, Clara. Mir waren die Orte ausgegangen, an denen ich dich suchen konnte. Ich war zu sehr in die Suche eingebunden, zu eng mit ihr verzahnt, ich sah überhaupt nichts mehr. Ich brauchte Klarheit und Perspektive und wusste, dass ich sie ohne Abstand niemals finden würde.
Kurz vor Leigh-on-Sea gab die Straße den Blick aufs Wasser frei, aufgewühlt und dunkel und trostlos. Auf der Einfahrtsstraße der Kleinstadt sah ich keine Menschenseele, keine Spaziergänger, die dick eingemummt den Elementen trotzten. Die Bänke waren leer, die Bäume kahl. Der Ort wirkte düster, verlassen, selbst die Fish-and-Chips-Buden waren mit Brettern zugenagelt.
Ich hatte Ann Carvello in der Vorwoche unmittelbar nach der Urteilsverkündung angesprochen. Ich stand in dem eisigen Wind, der vom Old Bailey herabwehte, an unserem Livepoint, als ich aus dem Augenwinkel heraus einen Blick auf ihr weißes Haar erhaschte. Als ich mich umdrehte, sah ich sie mit so tief gesenktem Kopf, dass ihr Schultertuch sie fast verschluckte, vom Gerichtsgebäude weghuschen. Sie konnte nicht rennen, nicht in ihrem Alter, und das hätte auch zu viel Aufsehen erregt. Sie wollte unauffällig vorbeischlüpfen, und das wäre ihr auch fast gelungen, weil außer mir niemand auf sie aufmerksam wurde. Ich riss meinen Ohrhörer heraus und ging, so schnell ich konnte. Am Ende der Straße hatte ich sie eingeholt.
» Mrs. Carvello?«, fragte ich, als sei ich mir meiner Sache nicht sicher. Ich war so dicht vor ihr stehen geblieben, dass sie fast mit mir zusammenprallte. Sie hob den Kopf und sah mich mit blutunterlaufenen Augen an.
» Sparen Sie sich die Mühe, Schätzchen«, sagte sie mit den rot geschminkten Lippen, die ihr Markenzeichen waren. » Ich rede nicht mit Ihnen.« Sie nickte mir zu und ging weiter – eine Frau, die im Leben nichts mehr besaß außer einer Story, die alle hören wollten.
Ich fand ihr Haus in einer Parallelstraße zum Strand. Eine größere Doppelhaushälfte mit gepflegtem Garten. Auf beiden Seiten ihrer grünen Haustür schaukelten leere Blumenampeln im Wind. Äußerlichkeiten, dachte ich, schienen Ann Carvello viel zu bedeuten.
Ich klingelte und wartete, zog meine Regenjacke eng um mich, um meine Arbeitskleidung zu verbergen. Hinter der Tür waren Schritte zu hören, die zögernd durch die Diele kamen, dann war durchs Glas ein marmoriertes Gesicht zu sehen.
» Wer ist da?«, fragte eine sanfte Stimme.
» Ich bin’s, Rachel. Hoffentlich störe ich nicht. Ich bin zufällig vorbeigekommen.« Ich stellte mir vor, wie sie an eine Rachel dachte, die sie kannte – bei so was ist ein häufiger Name nützlich –, eine Nichte, eine Freundin, die sie nicht kränken wollte, indem sie » Rachel we r ?« fragte.
Ich hörte, wie sie die Sicherungskette aushakte und langsam die Tür öffnete. Zuerst erschien ihr weißes Haar, dann ihr Gesicht, selbst zu Hause mit rotem Lippenstift. Zu einer hellblauen Wolljacke trug sie einen Tweedrock. Tadellos.
Sie starrte mich einen Augenblick prüfend an, dann zeigte ihr Gesichtsausdruck, dass sie mich erkannte. Die Tür ging wieder zu. Ich stellte rasch einen Fuß hinein.
» Ich dachte, Sie würden mit mir reden wollen.«
» Ich habe Ihnen nichts zu sagen.« Sie drückte fester gegen meinen Fuß.
» Ich glaube nicht, dass Sie davon gewusst haben, hab ich recht? All diese Interviews, die ihre sogenannten Freundinnen gegeben haben, Ihre Nachbarin heute in der Sun, Ihre alte Schulfreundin am
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