zorneskalt: Thriller (German Edition)
» Oh, ich habe nie geglaubt, dass er’s getan hat, keine Sekunde lang«, sagte sie. » Ich wollte mit jeder Faser meines Herzens, dass es nicht wahr war. Ich wollte, dass es sich als eine schreckliche, grausame Lüge erwies. Er hat immer wieder gesagt, ich müsse ihm glauben. Ich sei die Einzige, die das tue. Und ich hab’s getan. Ich habe ihm wieder und wieder versichert, dass ich’s tue.«
» Manchmal ist es so einfacher«, sagte ich und nahm mir einen Keks.
Sie schloss die Augen, als beschwöre sie eine Erinnerung herauf. » An einem Verhandlungstag, das weiß ich noch gut, hat er dem Ankläger erklärt, warum er spätnachts mit dem Auto unterwegs gewesen ist. Er hat behauptet, er leide an Schlaflosigkeit, deshalb habe er sich oft ins Auto gesetzt und sei ziellos herumgefahren.« Sie machte eine Pause, und ich sah ihre Lippen zittern, während ihr fast die Stimme versagte. » Tatsache war jedoch, dass er eingeschlafen ist, sobald sein Kopf auf dem Kissen lag. Immer. In all den Jahren, die wir verheiratet waren, hatte ich nie erlebt, dass er nicht einschlafen konnte.« Sie schnalzte mit den Fingern. Schnapp. » Es war nur eine kleine Lüge, aber da wusste ich, dass er in allen Punkten gelogen hatte. In diesem Augenblick ist einfach alles zusammengebrochen. All unsere Ehejahre, die Kinder – alles ist einfach implodiert.« Sie zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und fuhr sich über die Augen. » Es sind die kleinen Dinge, die Leute verraten. So können sie lange unentdeckt bleiben, weil diese Dinge so klein sind, dass wir sie oft übersehen. Aber wer genau genug hinsieht, findet sie.« Sie machte eine Pause, dann flüsterte sie: » Ich war einunddreißig Jahre mit ihm verheiratet, und ich hoffe, dass er in der Hölle schmort für das, was er diesen Frauen angetan hat.«
Diese Frauen. Vier Frauen, Mütter, Ehefrauen, Töchter, alle von Charlie Carvello ermordet, dessen Verbrechen jahrzehntelang ungesühnt blieben, bis die Wissenschaft ihn endlich überführte. Er war letzte Woche im Old Bailey zu lebenslanger Haft verurteilt worden.
» Das tut mir leid«, sagte ich, » und ich bedaure, dass niemand Ihnen glaubt.«
» Sie wollten wissen, ob ich irgendetwas zu sagen habe, Schätzchen … nun, dann ist es Folgendes: Man kann jemandem ein Leben lang so nahestehen und ihn doch nicht wirklich kennen.«
Ich musterte Ann prüfend und versuchte, hinter ihre tadellose Fassade zu sehen. Ich konnte nur ein hohles Nichts erkennen, das seine eigene Geschichte erzählte. Alle im Lauf der Jahre angesammelten und als Schatz bewahrten Erinnerungen, ihre Kinder, ihre Liebe, alles Lächeln und Lachen, alle schwierigen Zeiten – um das alles war sie durch seine Lüge gebracht worden.
» Nachträglich gesehen«, sagte sie, » hat es wohl Anzeichen gegeben. Anzeichen und Hinweise gibt es immer. Die Frage ist nur, ob wir sie sehen wollen. Meistens sehen wir nur, was wir sehen wollen.«
Wir sprachen noch eine Stunde lang, bis der Tee kalt geworden war und sie neuen kochte. Wir sprachen über ihre Kinder, wie die Journalisten mit ihr umgingen ( » Die meisten waren schrecklich, nicht wie Sie«), und als ich vorschlug, mein Kameramann solle hereinkommen und ein paar Minuten mit ihr aufzeichnen ( » Ihre Story, wie Sie sie erzählen möchten«), leistete sie keinen Widerstand.
Als wir fertig waren, umarmte ich sie, bevor ich zu meinem Wagen hinausging. Ihr Körper war sogar noch zarter, als er aussah. » Danke«, sagte sie, » für Ihr Verständnis.«
Ich versicherte ihr, sie brauche mir nicht zu danken, und sah Erleichterung auf ihrem Gesicht, dessen Züge jetzt weicher waren. Als sei eine Last von ihr genommen worden. Ich hatte ihr Gelegenheit gegeben, die Dinge aus ihrer Sicht zu schildern. Als ich ihr zum Abschied zuwinkte, nahm ich ein dreißigminütiges Interview mit, das jeder wollte – mit Ann, der Frau des Serienmörders. Meine Kollegen sagten immer, ich besäße die glückliche Gabe, Leute zum Reden zu bringen. Aber Glück hatte nichts damit zu tun. Ich erkannte nur, was die Leute brauchten, was sie wollten, bevor sie’s selbst wussten.
Es war längst dunkel, als ich nach West London zurückkam. Als ich vor dem Hangar parkte, der die NNN -Nachrichtenschleuder beherbergte, konnte ich die hell beleuchteten Redaktionsräume sehen, in denen hart gearbeitet wurde. Ich lief zum Eingang hinüber und zog meinen Dienstausweis durch den Kartenleser, um eingelassen zu werden. Drinnen blieb ich kurz stehen, um mein Handy zu
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