Zu einem Mord gehoeren zwei
auf dem schnellsten Weg nach Frohnau hinausgefahren. Wenn man oben vom Zehn-Meter-Brett abgesprungen ist, dann ist es ziemlich witzlos, wenn man sich während des Flugs auf den sicheren Turm zurückwünscht. Was man auch denkt und tut, wie man auch nach einem Ausweg sucht und betet – man stürzt weiter dem Wasser entgegen. Sie wehrte sich nicht mehr gegen das, was sie nun tat. Nichts war leichter zu ersetzen als ein Menschenleben. Das Leben erschien ihr sinnlos, der Tod hatte kein Gewicht. Darum war es bedeutungslos, was der einzelne tat oder unterließ. Warum handle ich also? dachte sie unterwegs. Sie wußte keine Antwort. Aber vielleicht würde sie eine wissen, irgendwann, schon bald vielleicht. Darum fuhr sie weiter.
Am Ludolfinger Weg hielt sie, stieg behutsam aus, verschloß den Wagen und ging auf einer schmalen Seitenstraße zu Tomaschewskis Villa hinüber.
Frohnau, nördlichster Zipfel Berlins und wie ein Keil in die DDR hineinragend, Gegenstück zu den Villen von Grunewald und Dahlem – hier war sie groß geworden. In fünf Minuten hätte sie das langgestreckte Grundstück erreichen können, das einst ihren Eltern gehört hatte… Erinnerungen, Assoziationsfetzen: Die ersten Schritte im weichen Gras; der Vater, hoch wie ein Kirchturm, mit seinem harten Gesicht neben ihr; die Schule, die erste Fibel auf grauem Kriegspapier. Heute erschien es ihr, als hätte schon eine knappe Woche später der Lateinunterricht begonnen, von ihr bis ans Ende der Schulzeit gefürchtet: Nuntius epistulam apportat…
Dann die ersten Küsse. Feuerhahn. Ein Frühlingsabend in der weinumrankten Laube, Wind in den Kiefern, der Mond wie eine riesige Orange auf dem Haus, süßer Duft des weißen Flieders, zwischen den Sternen rot und grün blitzende Propellermaschinen, seine Hände sanft auf ihrer heißen Haut, irgendwo traurig ein Käuzchen, die S-Bahn dröhnt verloren über den Damm… wie zart er ist! Und ein Jahr später, dieselbe Szenerie, aber Scheu und Vorsatz sind vergessen – ein Jahr später war Feuerhahn dann nicht so zart gewesen… Ist es wirklich geschehen, oder ist es nur ein Traum?
Sie ging langsamer; sie brauchte Zeit für die Gedanken, die sie bedrängten. Es begann zu regnen, und sie mußte ihren dunklen Schirm aufspannen. Das konnte ihr nur recht sein, denn so konnte sie, kam ihr wirklich ein Bekannter entgegen, leicht ihr Gesicht verdecken.
Ohne daß sie es wollte, klang plötzlich ein Gedicht in ihr:
Verflossen ist das Gold der Tage,
Des Abends braun und blaue Farben:
Des Hirten sanfte Flöten starben
Des Abends blau und braune Farben
Verflossen ist das Gold der Tage.
Trakl war das, Georg Trakl. Ob ihr die Tat noch einmal Tage brachte, die so erfüllt waren? Ließ sich mit diesem Mord ihr Leben retten? Sie hoffte es, und es war ihre einzige Hoffnung. In der Bewältigung der Tat, in diesem lebenslangen Ringen mit der brennenden Schuld lag die letzte Hoffnung auf erfüllte Jahre.
Dann war die Zeit gekommen, wo sie sich, gezwungen vom Ehrgeiz der Eltern, auf eine Karriere als Sängerin konzentrierte. Auf dem Umweg über einen Chor sollte sie berühmt werden, sollte sie sich die Met und die Scala erobern. Nach dem Abitur die Gesangsausbildung, dann das Vorsingen mit einer Mozart-Arie. Ach, ich fühl’s… Angenommen! Tiefe Altstimmen waren immer gesucht. Dann die täglichen Proben. Und zweimal im Jahr Konzerte in der Philharmonie: Beethovens Neunte, das Requiem von Brahms, das War Requiem von Britten. Feuerhahn, eben noch im Zentrum ihres Lebens, verlor sich nun an der Peripherie, ihre Entfernung wuchs mit jedem Tag. Aber er hatte es wohl verstanden, sich zu trösten…
Hinter zwei hochaufragenden Silbertannen und einer Reihe buschiger Birken schimmerte Tomaschewskis Villa hervor. Weiß gekalkt die Wände, zwei Stockwerke und die Mansarden, ein steiles Dach, hinten in einen Hang hineingebaut. Über ein Jahrzehnt hatte sie hier gewohnt… Sie wußte, daß es in dieser wenig belebten Gegend auffallen mußte, wenn sie so langsam durch den Regen schlenderte, aber sie ging noch langsamer.
Bald hatte sich herausgestellt, daß ihre Stimme nicht ausreichte für eine strahlende Solistenkarriere. Die Vorstellung, ein Leben lang in der Anonymität des großen Chors bleiben zu müssen, erschien ihr unerträglich. So hatte sie sich in die Ehe mit Tomaschewski geflüchtet – und war auch hier gescheitert. Das heißt, er hatte ihr das Leben zur Hölle gemacht; er hatte Jens in den Tod getrieben – und wozu
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