Zu Grabe
eine kleine, zarte Person hatte die Witwe eine außerordentlich tiefe Stimme und einen enorm festen Händedruck.
»Thomas Reiter. Mein herzliches Beileid.«
Sie nahm den Hut ab und gab den Blick auf ein braungebranntes Gesicht frei, das, obwohl es vom Alter – Morell schätzte sie auf Mitte sechzig – und von der Trauer gezeichnet war, immer noch gut aussah. Helene Novak war ganz offenbar eine resolute, gestandene Frau, der man nichts vormachen konnte.
Der Chefinspektor überlegte fieberhaft, wie er es anstellen konnte, die Witwe so taktvoll und diskret wie möglich über den Mord auszuhorchen, als Eschener den Raum betrat und mit professionell betretener Miene auf die Kundin zueilte. »Frau Novak«, rief er. »Die Umstände sind nicht schön, aber es ist mir eine Freude, Sie hier zu begrüßen. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Wasser? Kaffee?«
»Kaffee wäre nett.«
Eschener wandte sich an Morell. »Herr Reiter, seien Sie doch bitte so gut.«
Als Morell mit dem Kaffee zurückkam, diskutierten Eschener und Frau Novak gerade über Grabsteine. Der Bestatter war dabei so sehr in seinem Element, dass er die plötzliche Anwesenheit des Chefinspektors gar nicht zu bemerken schien. »Ich dachte an dunkelgrauen Marmor mit goldenen Buchstaben.« Er breitete mehrere Beispielfotos vor der Witwe auf dem Tisch aus.
Frau Novak nickte. »Diese Idee finde ich gut. Wir nehmen den größtmöglichen Stein und die größtmögliche Schrift.«
Eschener notierte mit geröteten Wangen alles auf einem Blatt Papier. »Wenn der Leib in Staub zerfallen, lebt der große Name noch«, zitierte er Friedrich Schiller.
»Es geht mir eher darum, Pfarrer Stimpfl zu ärgern«, stellte die Witwe die Sache klar. »Die ganzen letzten Jahre hat er meinen Mann gepiesackt, und jetzt will er ihn nicht einmal aussegnen. Da geschieht es ihm nur recht, wenn das Grab vom Vitus nicht zu übersehen ist.«
»Woher stammt denn diese Feindseligkeit zwischen dem Pfarrer und Ihrem verstorbenen Mann?«, mischte Morell sich in das Gespräch ein und erntete dafür einen kritischen Blick von Eschener. »Wenn wir den Grund kennen, können wir den Priester vielleicht doch noch überreden, dem Toten seinen Segen zu spenden«, versuchte er, sich aus der Affäre zu ziehen.
»Kein Mensch weiß mehr, wie das alles begonnen hat«, winkte die Witwe ab. »Stimpfl hat eines Tages aus heiterem Himmel damit angefangen, meinen Mann als Gotteslästerer zu beschimpfen. Niemand weiß, warum. Der Vitus hat sich das natürlich nicht gefallen lassen und sich gewehrt.«
Der Chefinspektor grübelte. Komisch, dass anscheinend niemand den Auslöser des jahrelangen Nachbarschaftsstreits zu kennen schien. Er würde der Sache ein wenig auf den Zahn fühlen müssen. »Hatte Ihr Mann sonst noch Streit mit irgendwem?« Morell kassierte einen fragenden Blick von Eschener.
»Es gab Unstimmigkeiten mit diesem Dr. Lorentz, seinem Mörder, aber sonst fällt mir spontan niemand ein.«
»Was die Urne betrifft …«, setzte Eschener an, wurde aber vom Chefinspektor unterbrochen.
»Es gibt Gerüchte, die besagen, dass die Polizei den falschen Mann verhaftet hat. Was halten Sie davon? Würden Sie es Stimpfl oder sonst wem zutrauen?«
»Was sollen diese Fragen, Herr Reiter?« Eschener schüttelte unverständig den Kopf. »Ich glaube, das geht Sie alles nichts an und tut hier außerdem nichts zur Sache. Kommen wir zurück zum Begräbnis.«
Helene Novak brachte den Bestatter mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Was sind das für Gerüchte?«, wollte sie wissen. »Mir wurde versichert, dass der Mörder meines Mannes hinter Schloss und Riegel sitzt.«
»Es wäre nicht das erste Mal, dass die Justiz einen Irrtum begeht.«
»Woher stammen diese Gerüchte?«, wiederholte die Witwe. »Wer sagt so etwas?«
Morell begann zu schwitzen. »Das stand in einer dieser Gratiszeitungen, die in der U-Bahn verteilt werden«, log er.
»Eine Frechheit ist das.« Sie schlug auf den Tisch. »Und ich bin die Letzte, die davon erfährt.«
»Es tut mir leid, Frau Novak«, mischte Eschener sich ein. »Es war sicherlich nicht die Absicht von Herrn Reiter, Sie aufzuregen und Salz in Ihre Wunden zu streuen.«
»Nein. Es ist gut, dass Herr Reiter mich informiert hat. Eine schreckliche Vorstellung, dass der Mörder meines Mannes immer noch frei herumlaufen könnte.« Sie nahm einen großen Schluck Kaffee. »Hoffen wir, dass dieses Klatschblatt gelogen hat.«
»Würden Sie es Stimpfl zutrauen?«, hakte
Weitere Kostenlose Bücher