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Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Titel: Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerova
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ungewöhnlichen Patienten behandeln.«
    »Von Ihnen erfahre ich immer ungewöhnliche Dinge.«
    »Das scheint Ihnen nur so, Doktor. Und gibt es bei Ihnen etwas Neues?«
    »Meine Schiffskarte ist eingetroffen.«
    »Ach?« Kurt blickte ihn forschend an. »Darf ich Sie beglückwünschen?«
    Michal Racek hielt seinem Blick stand. »Vorläufig beglückwünschen Sie mich noch zu gar nichts. Und sagen Sie bitte niemandem etwas davon. Ich bin mit mir selbst noch nicht im reinen.«
    »Keine Sorge.«
    »Konspirative Gespräche? Störe ich nicht?« Unbemerkt war Darinka zu ihnen getreten. Sie wickelte sich fröstelnd in ihren losen Herrensweater, aber ihre Augen brannten mehr denn je.
    »Du störst nie, ma petite.« Kurt legte ihr zärtlich den Arm um die Schultern. »Hast du schon mit Gaston gesprochen?«
    »Ja.«
    Anscheinend wollte Kurt noch etwas sagen, statt dessen beugte er sich plötzlich zu Darinka nieder und küßte sie aufs Haar. Michal Racek wurde unruhig. Auf einmal fürchtete er, etwas Unwiederbringliches zu versäumen, bekamAngst, daß die Tür, die sich vor ihm ein wenig geöffnet hatte, von neuem zufallen, ein für allemal zufallen könnte.
    Er lief hinauf zu seinem Kranken. Diego lag ruhig auf dem Sofa und schlief. Doktor Racek fühlte seinen Puls, der war jetzt etwas besser. Dann blickte er lange in das Gesicht seines Patienten. Wie sonderbar. Vor einigen Stunden wollte er beinahe an der Unsinnigkeit seines Lebens verzweifeln, und nun hatte man ihm einen so außergewöhnlichen Menschen anvertraut.
    Er schaltete die mit einem großen Taschentuch abgeschirmte Glühlampe aus, trat zum Fenster und schob ein wenig die Decke beiseite, mit der es verhängt war. Zuerst sah er nichts als undurchdringliche Finsternis. Allmählich entdeckte er da und dort einen zitternden Stern und erkannte die Umrisse eines großen Baumes, der unmittelbar vor dem Haus stand und es mit seinem schwarzen Schatten schützte. Vielleicht auch ein Hausengel, ging es ihm durch den Kopf. Aber nein, den durfte man ja nicht erträumen, wie ihm Darinka erklärt hatte, den mußte man erwirken.
    Er blickte auf seine Uhr. Bald war es Mitternacht. Noch ein Tag, und dann wird es für ihn keine Darinka mehr geben und keinen Kurt, auch dieses seltsame Haus wird entschwinden. Warum zog ihn diese andere Welt in seiner bisherigen trostlosen so an? Weil sie sich gegen die Trostlosigkeit stemmte?
    Lange stand er in dem stillen Zimmer am Fenster und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Er war in Brünn und im Flüchtlingsstrom auf den französischen Landstraßen; in seinem häßlichen Marseiller Zimmer und in einem unbekannten Operationssaal. Dann wieder auf einem großen Schiff, oder er strich durch die Gassen einer fremden Stadt. Er war mit Darinka und dann wieder allein. Er behandelte Diego und durchstreifte das Marseiller Hafenviertel. Er zog in eine leere Wohnung ein und saß schließlich wiederum unten an dem großen Tisch, und draußen vor demverhängten Fenster war eine Welt, deren feindseliger Gleichgültigkeit er langsam zu widerstehen versuchte.
    Endlich ließ er die Decke herabfallen und schlich auf den Zehenspitzen aus dem Zimmer. Im Korridor unter der Treppe stand Darinka.
    »Jetzt mußt du schon gehen, Michal, sonst versäumst du die letzte Straßenbahn. Ich begleite dich.«
    Er verabschiedete sich von allen und versprach: »Morgen abend komme ich wieder vorbei.«
    Nur Kurt schenkte dem besondere Beachtung.
    Draußen umfing sie Kälte und Dunkelheit. Sie faßten einander unter und schritten schweigend über den Feldweg, über den ein eisiger Wind wehte.
    »Du solltest umkehren, Darinka«, sagte Michal, »es ist sehr kalt.« Dabei ließ er jedoch ihre Hand nicht los und verlangsamte nur ein wenig den Schritt.
    Darinka blieb stehen. In der Finsternis schimmerte ihr helles Gesicht, eine transparente Muschel mit brennenden Lichtern.
    »Wir sehen uns heute zum letztenmal, Michal.«
    Er taumelte wie unter einem Schlag. »Warum?« Und eine Welle unerträglicher Bitternis durchfuhr ihn.
    Sie wollen ihn nicht, verjagen ihn an der Schwelle der geöffneten Tür. Er gehört nicht zu ihnen, gehört zu niemandem.
    »Ich gehe morgen von hier weg«, sagte Darinka still. »Im besetzten Teil Frankreichs muß jemand abgelöst werden. Ich übernehme seine Arbeit.«
    Jetzt bemächtigte sich seiner Angst, Angst um die kleine Person in zweifellos großer Gefahr.
    Er nahm sie in seine Arme und zog sie fest an sich. Nach einer Weile sagte er:
    »Ich weiß nicht, warum das

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