Zu nah am Feuer: Roman (German Edition)
immer wieder in Gedanken durchging.
Warum hatte Joe den Helden spielen müssen?
Aber sie kannte die Antwort darauf. Er hatte am nächsten gestanden, hatte die größte Chance gehabt, den Mann zu überwältigen, ehe dieser jemanden anschoss. Und dennoch waren zwei Schüsse gefallen.
Sie fuhr schneller und schaltete ihr Radio an, um so vielleicht etwas Neues zu erfahren.
»Ein Beamter liegt am Boden«, berichtete ein Reporter mit näselnder, unpersönlicher Stimme, als ob er das Alphabet vorläse. »Aber der Schütze ist in Gewahrsam …«
Es dauerte vier weitere, quälende Minuten, bis sie am Tatort eintraf, es waren die längsten Minuten ihres Lebens. Sie hatte Kennys Einsatzfahrzeug aus den Augen verloren, und der gesamte Häuserblock war abgesperrt, trotzdem fuhr sie so nahe heran, wie sie nur konnte. Leider fand sie keinen Parkplatz.
Als ein Notarztwagen, gefolgt von einem Streifenwagen, in entgegengesetzter Richtung an ihr vorbeijagte, schlug ihr Herz noch schneller. Sie wollte gerade ihren Käfer irgendwo abstellen und sich zu Fuß zu dem Laden durchschlagen, als ihr Mobiltelefon klingelte.
Es war Kenny. »Oh, Gott sei Dank«, sagte sie statt einer Begrüßung. »Hören Sie, ich kann nicht nahe genug herankommen, ich kann nirgends parken. Ich wollte gerade …«
»Kehren Sie um.« Er klang völlig ruhig, aber Summer hörte, wie nervös und angespannt er unter der Oberfläche war. »Er wird gerade im Notarztwagen ins Krankenhaus gebracht.«
Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. »Er ist angeschossen?«
»Ich habe noch keine Details, aber wir beide wissen, dass Joe viel zu stur ist – er wird schon durchkommen.«
Sie hörte Ashes, die ein kleines Bellen ausstieß, und wusste, dass sie bei Kenny saß. Summer lachte kurz auf und versuchte, das Telefon zwischen Kopf und Schulter geklemmt, das Auto zu wenden. Aber der Verkehr war zu dicht, alle Fahrzeuge standen – und sie würde gleich ausflippen! »Verdammt!«
»Hören Sie mir zu, Summer. Sie haben Zeit, fahren Sie also vorsichtig. Summer? Sind Sie noch da?«
Weil sie einen Kloß im Hals spürte und praktisch nicht sprechen konnte, nickte sie nur – als ob Kenny sie sehen könnte.
»Fahren Sie einfach zum Krankenhaus«, sagte er. »Wir treffen uns dort.«
Summer warf das Handy auf den Beifahrersitz und schlängelte sich durch den Verkehr, dabei jeden wütend anhupend, der ihr in die Quere kam. Vor dem Krankenhaus parkte sie mitten auf dem Parkplatz und lief in die Notaufnahme, die total überfüllt war. Die Leute standen auf dem Flur, saßen mit dem Rücken an den Wänden, gingen auf und ab. Summer rannte an allen vorbei, direkt bis zur Schwesternstation. Die Schlange hier war lang, aber weil niemand etwas zu tun zu haben schien, sprach sie einfach eine vorbeieilende Krankenschwester an. »Joe Walker«, stieß sie atemlos hervor. »Der Fire Marshal von dem Einruch in dem Laden.«
Wundersamerweise ging die Krankenschwester zum Tresen und warf einen Blick auf ein Klemmbrett. »Sind Sie eine Angehörige?«
Summer überlegte keine Sekunde, wie sie darauf antworten sollte. Sie kannte die Regeln. Kein Angehöriger, keine Informationen. »Ja«, sagte sie, denn es stimmte. Sie stand ihm von allen Menschen am nächsten.
»Er wird gerade operiert.« Die Schwester nickte knapp in Richtung Wartezimmer. »Setzen Sie sich.«
22
Er war wieder fünf und hatte ein Glas Milch umgestoßen. Er stand da, zitterte am ganzen Leib und blickte in das drohende Gesicht seines Vaters.
»Ich muss dir eine Lehre erteilen, Junge.«
Joe wusste, was gleich kam, und biss sich auf die Lippe, weil er nicht weinen wollte. Und sein Vater schlug zu. Mit seinen riesengroßen, kräftigen Händen …
»Hier, das ist gegen die Schmerzen. Joe? Joe, kommen Sie schon, machen Sie die Augen auf.«
Joe öffnete ein Auge und stellte fest, dass er von einem weißen, gleißenden Licht umgeben war, so dass er das Auge wieder schloss. Seine Zunge fühlte sich geschwollen an, sein Hirn umnebelt.
»Wissen Sie, was passiert ist?«, fragte eine Frauenstimme.
Seine Nase wurde von einem metallischen Geruch attackiert, und eine warme Hand legte sich auf seinen Arm. Die Frau bereitete einen Tropf vor, und da riss er die Augen noch einmal auf.
Die Krankenschwester lächelte ihn an. »Hallo. Willkommen zurück.«
Er erinnerte sich, dass er in dem kleinen Laden um die Ecke gewesen war, und an die Schreie, als der Kleinkriminelle die Waffe hob und auf einen Polizisten richtete. Auch daran,
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