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Zu zweit tut das Herz nur halb so weh

Zu zweit tut das Herz nur halb so weh

Titel: Zu zweit tut das Herz nur halb so weh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Kibler
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Robert drohte mir spielerisch mit dem Finger und wandte sich wieder seiner
Arbeit zu.
    Ich schlenderte zum Haus, wo Mutter mich hinter der Tür erwartete.
Sie schürzte die Lippen wie früher bei Tante Bertie.
    Â»Isabelle, du gibst dich zu viel mit den Prewitts ab«, stellte sie
fest. »Vergiss nicht, wer du bist.«
    Â»Mutter …«, hob ich an, doch sie hatte sich bereits abgewandt.
    In den Sommerferien hielt mich meine Mutter beschäftigt. Ich
lernte, Pfingstrosen und Taglilien aus dem Garten zu Sträußen zu arrangieren,
reife Gurken oder Okraschoten für Cora zum Einlegen auszuwählen und eine Menge
altmodischer Tätigkeiten, die mir sinnlos erschienen. Ich hätte viel lieber
gelesen oder Spaziergänge gemacht, aber nun genoss ich nicht mehr so viele
Freiheiten wie in meiner Kindheit. Wenn meine Mutter mich hin und wieder doch
aus den Augen ließ, nutzte ich die Gelegenheit.
    An einem besonders heißen Nachmittag Anfang Juli beklagte sie sich
über Kopfschmerzen und zog sich zurück. Sie bat Cora, Nell zu meinem Vater zu
schicken, um ein Schmerzmittel zu holen, aber Nell kümmerte sich gerade um die
Wäsche. Obwohl sie sich bei dieser schwülen Hitze vermutlich über eine Pause
von ihrer schweißtreibenden Arbeit gefreut hätte, bot ich mich an.
    Â»Nein, nein, Miss Isabelle«, widersprach Cora. »Nell kann später
weitermachen. Die Wäsche läuft nicht weg.«
    Â»Es macht mir wirklich nichts aus. Ich würde Daddy gern sehen, und
außerdem halte ich es keine Sekunde länger in dem stickigen Haus aus.«
Theatralisch legte ich die Hände auf mein Herz. »Bitte?«
    Cora lachte. »Na schön. Aber kommen Sie so schnell wie möglich
zurück, sonst wäscht Ihre Momma uns den Kopf.«
    Ich versprach ihr, mich zu beeilen, und rief in der Praxis an, um
sicher zu sein, dass die Arznei dort für mich bereitlag, auch wenn Daddy zu
einem Patienten gerufen würde.
    Mein Vater, der an seinem Schreibtisch ein Sandwich aß, winkte mich
herein. »Setz dich, Liebes. Wenn du ein paar Minuten wartest, kannst du die
Lunchbox gleich mitnehmen.« Früher hatte ich ihm im Sommer oft in der
Mittagspause Gesellschaft geleistet. Unsere Gespräche von damals fehlten uns
beiden. Die Versuche meiner Mutter, mich zu einer Dame zu erziehen, waren für
meinen Vater vermutlich genauso verdrießlich wie für mich.
    Â»Ich muss mich beeilen. Mutter regt sich sonst auf, wenn sie das
Mittel nicht sofort bekommt. Außerdem habe ich mich vorgedrängelt, denn
eigentlich hätte Nell zu dir kommen sollen.«
    Â»Dann lauf. Schließlich wollen wir nicht, dass Nell oder Cora Ärger
mit dem Chef bekommen.«
    Â»Nein, das wollen wir nicht.« Ich steckte das Tütchen mit der Arznei
in die Tasche. »Daddy?«
    Er schmunzelte. »Ich dachte, du bist in Eile.«
    Â»Bin ich auch. Aber …« Ich ließ die Finger über den dünnen Stoff
meines Kleids gleiten und zeichnete mit dem Fuß die Konturen eines dunklen
Flecks auf dem Linoleumboden nach. Schließlich schüttelte ich den Kopf. »Egal.«
    Â»Was ist, Liebes?« Mein Vater legte das Sandwich weg, lehnte sich
auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände vor dem Bauch.
    Ich antwortete nicht sofort, weil ich an eine Szene vor etwa sechs
Jahre denken musste. Robert und ich hatten auf Stühlen zu beiden Seiten des
Schreibtischs von meinem Vater gesessen. Mein Mathematikbuch lag in der Mitte,
sodass wir alle hineinschauen konnten. Robert schrieb dieselben Aufgaben wie
ich in sein Heft. Ich wusste nicht, warum – schließlich war er ein Jahr älter
als ich. Außerdem wunderte ich mich, dass Robert kein eigenes Buch besaß. Auf
dem Heimweg erklärte Daddy mir, dass Roberts Schule die aussortierten
Lehrbücher anderer Schulen erhielt; sie waren so wertvoll für sie, dass die
Schüler sie nur selten mit nach Hause nehmen durften. Außerdem gab es nicht
genug Lehrer. In Roberts Klasse wurden oft Aufgaben gelöst, die ich schon viel
früher bewältigt hatte. Daddy bereitete ihn aufs College vor. Nun schämte ich
mich dafür, dass ich meine Bücher so wenig sorgsam behandelte, und begriff,
dass es ein Privileg war, sie jeden Tag mit nach Hause nehmen zu können.
    Daddy ging mit Robert ein Problem durch. Normalerweise lernte Robert
schneller als ich, was mich ärgerte. Doch nun hob er nervös den

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