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Zu zweit tut das Herz nur halb so weh

Zu zweit tut das Herz nur halb so weh

Titel: Zu zweit tut das Herz nur halb so weh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Kibler
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und gleichzeitig
verärgert. »Gott, Miss Isabelle, haben Sie mir einen Schreck eingejagt. Wie
lange beobachten Sie schon, wie ich mich zum Narren mache?« Das war wieder ganz
die alte Nell.
    Â»Nell, das war wunderschön. Ich hatte keine Ahnung, dass du so gut
singst. Was ist das für ein Lied?«
    Sie errötete. »Ach, nichts Aufregendes. Ich übe für unser
Kirchentreffen. Ein neues Lied von Thomas Dorsey.«
    Â»Ich habe schon von Tommy Dorsey gehört. Er hat das Lied
komponiert?«
    Â»Nein, nicht der mit Big Band. Mr Dorsey schreibt Gospelsongs. Ich
mag seine Stücke.«
    Â»Ja, das Lied klang sehr schön. Singst du ein Solo? Ich wünschte,
ich könnte dich hören. Wann ist euer Kirchentreffen denn? Schon bald?« Ich
bemühte mich, so zu klingen, als stellte ich die Frage aus reiner Höflichkeit,
dabei war mir gerade eine Idee gekommen.
    Â»Die ganze nächste Woche. Es beginnt Sonntagabend bei
Sonnenuntergang. Ich singe am Ende des Eröffnungstreffens«, antwortete sie
strahlend.
    Â»Cora und deine Familie sind bestimmt stolz auf dich.«
    Als ich ihre Familie erwähnte, erstarb Nells Lächeln. Es verschwand
zuerst aus ihren Augen, dann senkten sich ihre Mundwinkel. »Mir steigt das
nicht zu Kopf, Miss Isabelle. Ich singe zum Lob des Herrn.« Mit einem
Achselzucken wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Kurz darauf nahm ich meine
Sachen und ging, getrieben von Nells neuerlicher Distanziertheit, ins Haus.
    Doch die Idee ließ mich nicht mehr los.
    Am Sonntagnachmittag blieb ich mit vorgetäuschten Kopfschmerzen
im Bett, während der Rest der Familie auf der Terrasse hinter dem Haus Karten
spielte wie an allen Sommersonntagen.
    Bei Sonnenuntergang kam Mutter zu mir ins Zimmer. »Wie fühlst du
dich, Isabelle?«, erkundigte sie sich. »Brauchst du noch etwas, bevor ich zu
Bett gehe?«
    Auf meinem Nachttisch stand eine Schale mit kühlem Wasser und einem
Tuch für meine Stirn, und mein Vater hatte mir ein Aspirin gegeben, das mein
imaginäres Kopfweh natürlich in keiner Weise beeinflusste.
    Â»Mir geht’s schon wieder ein bisschen besser, Mutter.« Seufzend
drückte ich das feuchte Tuch gegen die Stirn. Von ihren Migräneattacken wusste
ich genau, was ich sagen musste. »Was ich jetzt brauche, sind Dunkelheit, Ruhe
und Schlaf. Morgen bin ich wieder so gut wie neu. Mach dir keine Sorgen um
mich.«
    Â»Gut, Liebes, dann lasse ich dich jetzt allein. Ruf mich, wenn dir
doch noch etwas einfällt.« Sie küsste mich auf die Wange und ging. Von der Tür
aus sah sie mich noch einmal schweigend an. Bei ihrem sorgenvollen Blick hätte
ich sie beinahe zurückgerufen, aber am Ende schloss ich die Augen, und sie
schlich auf Zehenspitzen weg.
    Als es still geworden war im Haus, schlüpfte ich aus dem Bett und
arrangierte Laken und Kissen so, dass es aussah, als hätte ich mich auf der
Seite zusammengerollt, den Kopf unter der Decke – für den Fall, dass meine
Mutter tatsächlich noch einmal nach mir schaute.
    Ich zog mein Nachthemd aus und eine Hose an, aus der mein Bruder
herausgewachsen war, stopfte eine Karobluse, die meiner Ansicht nach als
Jungenhemd durchgehen konnte, in den Bund der Hose und zurrte den Gürtel zu.
Zum Glück würden die Hosenbeine über die Halbschuhe reichen, weil sie auf den
ersten Blick als Mädchenschuhe zu erkennen waren. Zum Schluss band ich meine
Haare zusammen, schob sie unter die abgetragene Anglermütze meines Bruders und
musterte mich im Spiegel. Aus der Nähe würde ich nicht wie ein Junge aussehen,
das war klar, aber so nahe wollte ich gar nicht heran. In der stickigen Luft
meines Zimmers begann ich zu schwitzen. Ich fragte mich, wie Männer es
aushielten, während des Sommers lange Hosen zu tragen.
    Ich krempelte die Hosenbeine hoch und zog meinen Bademantel über. Mit
den Schuhen in der Hand schlich ich zur Tür meines Zimmers und öffnete sie
gerade so weit, dass ich hinausschlüpfen konnte. Nach meinem Ausflug würde ich
das Spalier an der Seite des Hauses hinauf und durchs Fenster klettern.
    Ich schlich die Stufen hinunter, eilte hinaus und die Auffahrt
entlang. Den Bademantel versteckte ich unter einem Busch.
    An der Main Street wurde ich langsamer, rollte die Hosenbeine
herunter und zog meine Schuhe an. In der Ortsmitte hielt ich mich dicht an den
Häusern und arbeitete mich von einem dunklen Eingang zum nächsten vor. Auf

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