Zu zweit tut das Herz nur halb so weh
sangen wir immer dieselben Lieder, und unser
Geistlicher, den ich von Kindesbeinen an kannte, verkündete Sonntag für Sonntag
mit monotoner Stimme die gleiche Botschaft von Hölle und Fegefeuer.
Nell summte leise den Refrain des Liedes, und der Chor stimmte ein.
Fast hörte es sich wie ein Wiegenlied an. AnschlieÃend schloss Bruder James den
Gottesdienst mit einem Gebet.
Nach dem Segen sang der Chor ein schnelles, rhythmisches Lied, das
die Gläubigen in die Welt entlieÃ. Manche fielen ein und klatschten dazu,
andere nahmen ihre Kinder auf den Arm oder umarmten einander. Ich hatte in
diesen schweren Zeiten nach der Depression noch nie so viel Fröhlichkeit und
Dankbarkeit bei Menschen gesehen, die ganz offensichtlich in Armut lebten.
»Nun, Miss Isabelle?«
Roberts Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
Nach kurzem Schweigen antwortete ich: »Ich weiÃ, es war dumm
hierherzukommen. Isabelle und ihre seltsamen Ideen.« Ich seufzte. »Aber etwas
Schöneres habe ich noch nie erlebt. Manchmal beneide ich dich, Robert, auch
wenn du mir das nicht glaubst. Deine Familie, deine Kirche und die Leute um
dich herum: Sie erstaunen mich. Bisher war mir nicht klar, wonach ich mich
sehne. Jetzt weià ich es. Nach so etwas.« Meine Stimme zitterte, und beinahe
hätte ich wieder geweint.
Robert verschränkte die Finger, als wüsste er nicht, was er mit
seinen Händen anfangen sollte. »Vorsicht, Isabelle, sonst wecken Sie Gefühle in
mir, die ich nicht haben darf.«
»Was empfindest du, Robert? Ich habe mich also doch nicht getäuscht?
Dir gehtâs genauso wie mir? Sag es, zeig es mir.«
Die Menge hatte sich angesichts der späten Stunde schnell zerstreut,
und die Laternen an der Laube schwangen leicht im Wind.
Wir waren allein.
»Sie wissen, dass ich das nicht kann. Es wäre falsch und würde uns
in Schwierigkeiten bringen.«
Er hatte recht. Das hier musste aufhören, und ich sollte ihn bitten,
mich zur Ortsgrenze von Shalerville zu begleiten, wo ich hingehörte, wo ich
mich aber nicht mehr zu Hause fühlte. Aber ich brachte es nicht über mich.
»Robert.« Ich sah ihm in die Augen.
Er zog mich an seine Brust, wo ich seinen Herzschlag hörte. Seine
Umarmung beruhigte mich etwas. Ich fühlte mich sicher, aufgehoben, beschützt
und wollte nie wieder woanders sein als hier, in seinen Armen.
Nach einer Weile hob er mein Kinn mit einem Finger und blickte mich
fragend an. Ich legte den Kopf in den Nacken. Ja.
Seine vollen, sinnlichen Lippen berührten die meinen, sanft und
gierig zugleich. Mir stockte der Atem, als ich seine Zungenspitze spürte. Er
hauchte mir Küsse auf Stirn und Wangen. Ich kicherte, weil es kitzelte. Er
hielt inne, schob mich ein wenig von sich weg und musterte mein Gesicht.
»Wo hast du das gelernt?«, fragte ich. Vielleicht war er in Cincy im
Kino gewesen, wo Schwarze auf den Balkon durften.
Er neigte schmunzelnd den Kopf. »Möglicherweise bin ich ein
Naturtalent. Oder ich habe schon öfter geübt.«
Ein merkwürdiges Gefühl stieg in mir auf. Eifersucht? Auf die
anderen Mädchen, die er schon so geküsst hatte. Welches Recht besaà ich, zu
glauben, ich sei die Erste oder die Einzige?
Was für Rechte hatte ich überhaupt?
Offenbar bemerkte er meine Bedenken, denn seine Finger glitten zu
meinen Ellbogen, und er stemmte die Hände in die Hüften. »Was für ein hübscher
Junge, diese Miss Isabelle ⦠Ich denke, es ist Zeit heimzugehen.«
Schweigend gingen wir nebeneinanderher. Ich war derart mit meinen
Gefühlen beschäftigt, dass ich nicht merkte, wie er langsamer wurde und sein
Gesicht einen ernsten Ausdruck annahm, als wir uns dem Schild an der Ortsgrenze
von Shalerville näherten.
»Isabelle?«, fragte er, und ich bekam ein flaues Gefühl im Magen.
»Sagâs nicht, bitte«, murmelte ich und ergriff seine Hand,
ungeachtet der Tatsache, dass wir nur noch wenige Meter von dem Ort entfernt
waren, an dem er sich um diese Uhrzeit nicht aufhalten durfte.
Doch er sprach es aus: »Es darf nicht passieren. Es ist nicht
passiert.«
»Mir ist egal, was die Leute denken. Es war genauso gemeint, wie ich
es gesagt habe. Jedes Wort.«
»Isabelle. Was war das heute Abend? Mehr als eine schöne Erinnerung
wird es nie sein können. Für uns beide. Ist dir klar, was geschieht, wenn
jemand herausfindet, dass ich dich geküsst habe? Was
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