zuadraht
mir ins Ohr mit einem zur Seite gezogenen Kopfnicken in die Menge, in der sich der Rufer verbarg: „Ich kann nur nicht hinhören, sonst muss ich da reingehen. Und das wäre schlecht für unser Image.“
„Ich hätte mir den Knaben gefischt“, raunte ich zurück, so hätten sie gleich gewusst, dachte ich, wer der Vater vom kleinen Ferri Leimböck ist, verwarf den absurden Gedanken aber ebenso rasch wieder. Dann waren wir auch schon an der Absperrung vorbei und drinnen im ehrwürdigen Altbau und unter hauskundigem Geleit nach kurzem Treppauf an der Klassentür mit dem IV-B-Schild, ganz nach Tradition des Hauses in römischen Ziffern gehalten.
Der graue Tagesanzug passte perfekt, dazu ein lichtblaues Hemd, dunkle Krawatte mit hellen breiten Streifen, die Halbschuhe in Schwarz. Er saß in der Haltung eines bis zuletzt Korrekten, penibel über sich selbst hinaus und mit würdiger Steifheit, die Hände über den aufgeschlagenen Seiten eines Buches auf dem Lehrerkatheder gefaltet, eines Klassenbuches, wie Linien – und Spaltenführung rasch erkennen ließen, und nur der nach hinten überstreckte Kopf mit weit aufgerissenem Mund und strähnigem, wirr abstehendem Haar erzählte bei raschem Hinsehen vom Ableben eines alten Mannes. Dazu, bei näherer Betrachtung, die gebrochen grauen, vormals grünen Augen und die Ränder eines Flecks im Schritt der Anzughose, letzter vertrockneter Ausfluss eines verwelkenden Körpers, der sich vergeblich und mit rasch erlahmender Kraft gegen den Tod gestemmt hatte. Zu Füßen der Leiche lehnte eine zerschlissene braune Lederaktentasche, daneben lag ein Hofer-Plastiksack, zerschnitten und unterhalb der Öffnung in mehreren Bahnen mit silbrigem, ebenfalls durchtrenntem Klebeband umwickelt.
„Wir mussten ihn mit der Mullbindenschere aufschneiden, um zu sehen, ob noch was zu retten ist.“ Der Notarzt sagte es mit Blick auf den Einkaufssack und fast schon bedauerndem Achselzucken, als wir die Klasse betraten und er seinen metallisch glänzenden Notfallkoffer wieder mit sämtlichem Instrumentarium bestückte. „Natürlich mit Handschuhen.“ Morgendliche Gereiztheit schwang in seiner Stimme mit.
„Natürlich“, erwiderte Michelin. „Sonst etwas?“
„Er wurde erstickt“, gab der Arzt zurück. „Aber um das zu erkennen, werden Sie mich wohl kaum brauchen.“ Er hielt kurz inne, um sogleich hinzuzufügen: „Wie ich Sie kenne.“ Ärzte wollen gerne an ihren Opfern herumdoktern, dachte ich, und Notärzte besonders gerne, und dieser hier, wie Michelin und ich ihn kennen, besonders gerne dann, wenn es medial gut rüberkommt, das Herumschnipseln, und das Schlimmste, was dir als Notarzt passieren kann, überlegte ich weiter, ist einer, bei dem rein gar nichts mehr Sinn macht, nicht einmal ein bisschen Intubieren oder wenigstens mit dem Defibrillator ein paar Ladungen Strom reinjagen in den schlaffen Körper, ein lupenreiner Fehleinsatz, wo sie dann über Funk in ihre Rettungszentrale nur noch durchgeben können: „Patient ist hunderteins E.“ Hunderteins für Herz-Kreislauf und E für Exitus.
„Seht euch die Tafel an“, richtete sich Stillhofer an Michelin und mich. „Almer, Auner, Berger, Blaszic, Danninger, Däubling, Fasching, Falter, Gobiirsch . . . und Hanser. Es endet mit Hanser.“ Die Namen standen in geschwungener Handschrift akkurat untereinander. Jeder Strich als Teil eines Gemäldes von bestechender Symmetrie. Der Auswuchs grenzenloser Perfektion. Das Werk eines Pedanten. Und rechts davon ein einziger graphologischer Anachronismus in geradezu betont krakeligen Groß – und Kleinbuchstaben, drei Worte wie die Verhöhnung des gestochenen Schriftbildes von nebenan: LIBER kein LATINUS.
„Unser Freund ist ein Scherzbold“, sagte ich.
„Tote Sprache, toter Lehrer“, ergänzte Michelin. „Er versteht es, sich in Szene zu setzen.“
„Er heißt Lorenz Geier, Magister Lorenz Geier, und hat an unserer Schule Latein unterrichtet. Jahrzehntelang.“ Eine sonore Stimme durchdrang den hohen Raum, kräftig und herrschend, wie über die Jahre hinweg zu beständiger Stärke geschmiert. „Fehrmann, Doktor Fehrmann, Fehrmann mit E, ich bin der Direktor des Hauses.“ Der Herr Doktor schickte sich an, über die Schwelle in die Klasse zu treten. Michelin bedeutete ihm mit einer hastigen Handbewegung stehen zu bleiben. Fährmann mit Ä würde besser passen, dachte ich, der Fehrmann als Fährmann und die Schwelle als Hades, vom alten Geier überschritten, Rückkehr ausgeschlossen.
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