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überspringen. Damit steht er außerhalb der Gesellschaftsnormen, verzichtet auf den so genannten Schutz der Gemeinschaft: und wird zum Solokämpfer mit ultimativer Eigenverantwortung. Der Vorteil besteht darin, dass er ein Einmannbetrieb ist, der alle Entscheidungen selbst trifft, ein Nachteil ist, dass er deren Richtigkeit nur bei sich selbst hinterfragen kann. Und dass er von so genannten Gesetzeshütern gejagt wird.
Ein weiterer Vorteil des Hemmschwellenflüchtlings besteht darin, dass er ganz genau weiß, wie die ihn verfolgende Welt, die er verlassen hat, funktioniert. Nach den von ihr geschaffenen Gesetzen. Er hingegen braucht sich nicht an die Regeln der Gesellschaft halten, er kann sein eigenes Gesetzbuch schreiben. Wie ich es getan habe.
Tante Grete. Auch sie war eine Irre. Mein Vater hat sie gehasst, obwohl sie seine Schwester war. Aber wo steht geschrieben, dass man seine Schwester lieben muss? In ihren Gesetzbüchern? In der Bibel. Dort steht, dass man alle lieben muss. Nur Gott selbst muss nicht lieben. Der hasst alle, die seine Regeln brechen, so sehr, dass er sie in die Hölle schickt. Dort bin ich auch gelandet, als Vater starb. Bei Tante Grete. Selbst als ich siebzehn war, hat sie mich noch gezwungen, allabendlich, bevor sie zu Bett ging, das Abendgebet laut mit ihr gemeinsam aufzusagen. Als sie endlich verreckt ist, war ich zum Glück schon alt genug, um alleine leben zu dürfen. Von dem von Vater Vererbten. Beim Heer war ich zum ersten Mal so richtig glücklich. Jäger Hofer, dann Gefreiter Hofer. Das Gewehr, das Schießen. Mann, war ich gut. Der Kompaniekommandant, ein gewisser Leutnant Wawra, ein dicker Kotzbrocken, der immer nach Schweiß und Bier roch, hat mir mehrmals nahegelegt, mich weiter zu verpflichten und im Heer Karriere zu machen. Solche wie mich bräuchte das Land, hat er gesagt. Aber da waren zu viele Leerläufe. Endlose Tage des Nichtstuns. Zeit totschlagen. Beim Heer wird man zu etwas ausgebildet, von dem die Gesellschaft hofft, dass man es nie braucht. Soldaten werden für Kriege geschaffen, und Kriege will keiner. Wozu also Soldaten? Aber das Schießen habe ich gelernt.
Ich habe damals auch viel gelesen. Fast alles, was mein Vater in seiner Bibliothek gesammelt hatte. Vor allem politische Bücher. Von Mein Kampf bis zum Kommunistischen Manifest. Ich habe sogar James Joyces Ulysses und Musils Mann ohne Eigenschaften von der ersten bis zur letzten Seite gelesen. Dazu war das Heer gut. Und für das Schießen.
Die kaufmännische Lehre, die ich mit gutem Erfolg abgeschlossen hatte, war Vergangenheit. Sie hatte nur bewirkt, dass ich ganz genau wusste, was ich in meinem selbständigen Leben nie tun wollte. Verkäufer sein. Oder Kaufmann. Nach dem Heer meldete ich mich bei der Polizeischule an. Und wurde aufgenommen. Ich wollte Polizist werden. Ein verdammt guter. Und das war ich auch. Bis ich zu gut wurde.
Der Trottel im Käfig. Jetzt geht er auf und ab. Und ab und auf. Er weiß noch nicht, dass ich ihm bei unserer nächsten Begegnung das Ohr abschneiden werde. Das rechte oder das linke? Egal. Oder doch nicht? Ist es wie bei den Händen? Rechts – oder Linkshänder? Gibt es Rechts – oder Linkshörer? Ist ein Ohr wertvoller als das andere? Ich könnte ihm auch etwas anderes abschneiden. Finger, Zehen, die Eier, den Schwanz. Aber irgendwie ist es ein Ohr, das ich haben will. Der Gedanke gefällt mir. Ich werde ihm ein Ohr abschneiden, und er wird nichts dagegen tun können. Es ist das Auskosten der Macht, das Brechen ihrer Gesetze, das mich reizt. Ich entscheide, was ich tun kann, nicht sie. Ein rascher Schnitt, natürlich muss er davor gefesselt werden. Beim nächsten Besuch in seiner Zelle muss ich trachten, ihm so rasch wie möglich die Hände zusammenzukleben.
*
Erwachen. Ein Kaleidoskop ohne Farben; ein Wirrwarr in völliger Leere; ein dröhnendes Schallen ohne Lärm; zwei Gesichter im Kopf, ein bekanntes, vertrautes, abgedunkeltes voller Ecken und Rundungen und ein unbekanntes, unvertrautes, erhelltes bar jeder Kontur. Und da soll noch einer sagen, dachte ich an diesem frühen Montagmorgen, der erste Gedanke sei auch der beste, wenn er doch davon beherrscht ist, dass die eine Frau gegen deinen Willen aus deinem und die andere gegen deinen Willen in dein Leben tritt, Rosa im Gehen und eine namenlose Neunmalkluge im Kommen. Bestimmt so eine, dachte ich weiter, mehr und mehr schon bei der Neuen, die in psychologischen Wälzern haust und die, hat sie ihr dünnes
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