zuadraht
bis jetzt genutzt, sagst du, dachte ich, als ob ich selbst nicht wüsste, wie spät ich dran bin, wider meine Natur, wider meine Gewohnheit und wider mein Credo, eine naseweise, psychologisch geschulte Klugrednerin, die weiß, dass sie bei aller Unscheinbarkeit des ersten Anscheins heraussticht, überlegte ich weiter, eine die weiß, dass sie es ist, die irritiert. „Sie hätten die Zeit meines verspäteten Eintreffens auch nutzen können, um sich mit der aktuellen Faktenlage bekannt zu machen, Frau Kollegin“, erwiderte ich. „Die Zeit von elf Uhr bis jetzt.“
„Das habe ich im Zug getan. Anstatt mich zu schminken.“
Gut gebrüllt, Löwin, dachte ich, während ein paar Spürnasen schrill aufkläfften, und mir war, als müsste ich, natürlich widerwillig wie verborgen gleichermaßen, mitschmunzeln und mitbrüllen, leise und beherrscht, vom Zwingenden des Mienenspiels der Neuen unvermittelt in Geiselhaft genommen, vom Wechselspiel des ungehalten grobfühligen Schwungs ihrer Worte mit der verhalten feinfühligen Statik ihres Lächelns, ein wenn schon schnodderiges, so doch auch unterhaltsam spontanes Wesen, zurückhaltend burschikos verpackt in schlabberigen Pullover und in schluderige Jeans.
„Nachdem die Frau Kollegin sich uns allen, wie ich meine, ausreichend bekannt gemacht hat, können wir uns wieder der eigentlichen Bestimmung dieses Treffens zuwenden“, sagte ich in die Runde. „Wenn alle in gleichem Maße wie die Frau Kollegin die Zeit genutzt haben, dürfte bekannt sein, dass unser drittes Opfer Lorenz Geier heißt. Ein pensionierter Lateinlehrer, der im Keplergymnasium Nachhilfe gab und dort in einem Klassenraum ermordet wurde. Mit einem Plastiksack erstickt, wenn ich nicht irre. Was ist mit den Schülern, die ihn gefunden haben?“
Stillhofer schnellte los wie der gestraffte Gummizug eines Modellfliegers. „Außer geschockt sind die gar nix. Zumindest keine brauchbaren Zeugen.“
„Kein Wunder“, warf Michelin ein. „Der Geier dürfte vermutlich gestern am späten Abend getötet worden sein. Wir sollten bald mehr wissen, die Obduktion läuft.“
„Gut“, sagte ich. „Gehen wir also vorerst zu dem, was wir haben. Kollege Kurz wird alles auf der Tafel festhalten. Flussdiagramm, das kennt ihr ja, zumindest aus den amerikanischen Krimis. Der Stand von gestern in Kurzform: Martin Hanser ist derzeit der einzige Name, den wir mit den nunmehr drei Morden in Verbindung bringen können. Er hängt in welcher Form auch immer mit drin, als Täter scheidet er zumindest im ersten Fall mit größter Wahrscheinlichkeit aus. Nun, was gibt es . . .“ Nein, du sagst jetzt nicht: Was gibt es Neues?, dachte ich, weil sonst erinnern sich die Alten gleich wieder an den Heinz Conrads und sein Singsang in dieser singenden klingenden Wochenplauderei, und sind abgelenkt und fangen an zu summen, man weiß ja nie, so wie ich es jetzt auch gern täte, der ich zwar nicht zu den Alten, zu den Jungen aber erst recht nicht zähle. „Wie sieht es aus mit dem gestohlenen Sushi-Messer?“
„Wir konnten den Tatzeitraum auf drei Abende eingrenzen“, legte der Dienstälteste einer von zwei Dreiergruppen, die sich aus den Abteilungen Sitte, Betrug und Wirtschaft rekrutiert hatten, los. „Im Tokio herrschte wie immer volles Haus. Martin Hanser war an zwei Abenden da, einmal zugleich mit Frank Klausberger.“
„Der Hanser geht mit dem Klausberger abendessen?“ fragte ich erstaunt.
„Das habe ich nicht gesagt“, erwiderte der Sprecher der betrügerischen Wirtschaftssitte. „Sie waren zugleich dort. Das war auch schon alles. Der Wirt hat die beiden möglichst weit auseinander gesetzt. Auf Wunsch vom Hanser.“
„Vielleicht eine redaktionell motivierte Sozialphobie“, tönte es aus dem Eck für sittlichen Wirtschaftsbetrug, begleitet von einem einsamen verrauchten Lachen.
„Ich fürchte, wir können deinem doppelbödig intellektuellen Humor nicht folgen, Herr Kollege“, sagte ich mit belegter Stimme, als hätte ich soeben aufgestoßen.
„Ist doch ganz einfach“, konterte er. „Du schreibst schlecht über einen anderen Menschen, der es womöglich auch verdient, hast aber nicht den Mumm in den Knochen, ihm dabei ins Gesicht zu sehen. Das passt zu dem Bild, das wir bei unseren Erhebungen von Martin Hanser gewonnen haben. In der Branche ist er verschrien wie das falsche Geld. Kein Ehrgefühl. Kein Rückgrat.“
„Womöglich der Neid“, kam es aus der diebischen Räuberecke. „Wir alle wissen doch, dass einem
Weitere Kostenlose Bücher