Zuckermond
Hoffnung, dass der Tag bald vorbeigeht. Doch der nächste Tag steht schon in den Startlöchern und kann weitere Wolken bereithalten.“ „Das tut mir Leid. Ich hoffe, ich habe mit meiner Frage keine schlafenden Hunde geweckt, die dir womöglich den Tag verderben.“ „Keine Bange. Die ‚Hunde’ kommen nicht, wenn sie geweckt werden, sondern wenn sie meinen, ich denke nicht an sie. Von daher besteht also keine Gefahr.“ „Besteht denn Hoffnung auf Versöhnung oder ist es eher endgültig?“ „Letzteres.“ Und dann begann Rafael zu erzählen. Er schloss mit den Worten: „Tja, das war also das Kapitel ‚Marcel’.“ „Ein trauriges Kapitel. Ich kann mir vorstellen, wie schmerzhaft eine derartige Erfahrung sein muss.“ „Oh ja. Zumal ich zum ersten Mal derartig tief gefühlt habe.“ „Fühlst du dich im allgemeinem mehr zu Männern hingezogen, ich meine…“ Sie brach ab, weil sie nicht wusste, wie sie ihre Frage formulieren sollte. Rafael lächelte. „Diesbezüglich habe ich mich noch nicht festgelegt. Ich fühle mich sowohl zu Männern als auch zu Frauen hingezogen. Aber Marcel war der erste Mensch, in den ich von Herzen verliebt war. Ich hoffe, ich habe dich mit meiner Geschichte nicht gelangweilt.“ „Ganz und gar nicht. Mal davon abgesehen, dass ich aus aufrichtigem Interesse nachgefragt habe, statt eine höfliche Frage-Floskel von mir zu geben, finde ich, dass du wunderschön erzählen kannst. So bildhaft. Anschaulich – ja irgendwie poetisch.“ Rafael lächelte. „Das höre ich gern, wo doch ein kleiner, verkappter Poet in mir steckt. Ich packe meine Gedanken und Gefühle nämlich schon seit Jahren in Gedichte und wer weiß – vielleicht werde ich ja irgendwann einmal den Mut haben, sie in gebündelter Form einem Verlag vorzulegen, in der Hoffnung, dass sie dort ein ‚Zuhause’ finden.“ „Du hast keinen Mut dazu?“ Helena schaute ihn warm an. „Nun, das kenne ich. Sehr gut sogar. So ging es mir mit meinen Bildern zunächst auch. Heute bin ich allerdings froh, dass ich den Mut gefasst habe, meine Bilder an entsprechender Stelle vorzulegen. Sonst würde ich nicht da stehen, wo ich mich momentan befinde, nämlich auf dem Weg nach oben.“ Rafael sah sie eine Weile einfach nur schweigend und nachdenklich an. Dann stand er auf, lächelte und sagte: „Weißt du was? Ich werde dir einen Teil meiner Gedichte zeigen. Sie sind mein ‚Heiligtum’ und ich habe sie zuvor noch niemandem gezeigt. Du darfst dir also etwas darauf einbilden.“ Ein nettes Zwinkern und er verschwand im Nebenraum. Als er zurückkam, hatte er ein in dunkelrotem Lack eingeschlagenes kleines Buch in der Hand. Er setzte sich zu ihr und atmete tief durch. „Dies ist ein bedeutungsvoller Moment. Und du bist life dabei.“ Dann lachte er. „Es ist mir eine Ehre, edler Poet.“ Grinsend übergab er ihr sein „Heiligtum“ und Helena schlug das Buch ehrfürchtig auf. Zunächst wurde sie lediglich von der wunderschönen und kunstvollen, auch fantasiereichen Schrift, in der Rafael seine Gedichte zu Papier gebracht hatte, in den Bann gezogen. Die Buchstaben hatten etwas Faszinierendes und zogen ihre gesamte Aufmerksamkeit auf sich, so dass Helena zunächst nicht auf den Inhalt der Texte achtete. Die dunkelroten und schwarzen Buchstaben wiesen großes kalligraphisches Können auf. Das war Kunst in höchstem Maße. Helena blätterte sich fasziniert durch die Seiten, ohne ein einziges Wort in sich aufnehmen zu können. „Wenn deine Texte ebensolche Klasse haben, wie diese filigran platzierten Buchstaben, dann wäre es eine Sünde, deine Werke nicht einem Verlag vorzulegen. Ich bin beeindruckt. Wirklich beeindruckt. Hast du einen Kurs für Kalligraphie besucht?“ Rafael schüttelte den Kopf. „Ich bin eher ein Autodidakt. Habe aber einige Kalligraphiebücher und übe schon seit Jahren regelmäßig.“ „Ich ziehe meinen Hut.“ Fasziniert tauchte sie in das Gedankengut von Rafael ab. In aufwändig verzierten Buchstaben präsentierte sich ihr hier ein Teil von Rafaels Seele. Die Worte berührten sie. Zeigten sie doch, dass er es alles andere als leicht gehabt haben musste. „Das klingt alles sehr melancholisch – so, als hättest du es recht schwer gehabt in deinem Leben.“ „Das ist wohl wahr.“ „Es gefällt mir, wie du deine Gefühle und Gedanken umsetzt und ich hoffe, die Hoffnungslosigkeit, die ich das ein oder andere Mal zwischen den Zeilen gelesen habe, dominiert nicht in deinem Leben.“ „Keine Sorge. Ich
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