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Zuendels Abgang

Zuendels Abgang

Titel: Zuendels Abgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Werner
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Bellinzona war.

    Er dachte an Zuberbühler. Zuberbühler war die obligatorische Assoziation nicht nur zum Thema Militär, son- dern auch zu Bellinzona. Hier hatte ihn dieser außerordentliche Plattenleger im vorletzten Wiederholuhgskurs in Bedrängnis gebracht. Abends beim Bier. Kamerad, hatte er gesagt, du bist in Ordnung, aber du bist ein hoffnungsloser Intellektueller. - Zündel war wütend geworden und hatte entgegnet: Wo ist denn der Unterschied zwischen mir und einem richtigen Arbeiter? Abends bin auch ich müde! Und triebhaft eher am Wochenende. Ich rülpse, ich fluche, ich furze, ich trinke Bier. Lotto mach ich auch. Unzufrieden bin ich auch. Also, was ist denn da so verdammt verschieden? - Zuberbühler hatte ihm auf die Schulter geklopft und gesagt: Bist eben trotzdem ein Intellektueller! - Und Zündel, fast flehend: Aber warum denn? - Zuberbühler, väterlich: Weil du nicht weißt, was dir fehlt. Weil du ins Blaue hinein leidest. Weil du dich und das Universum keine Sekunde in Ruhe läßt. Weil deine Kopfkamera selbst beim Vögeln noch surrt - darum.

    Mürrisch hatte Zündel gesagt, er wisse schon, was ihm fehle, aber so husch husch lasse sich das nicht erläutern, und das mit dem Vögeln könne er, Zuberbühler, gar nicht beurteilen, und um sechs Uhr sei Tagwache.

    Während des einstündigen Aufenthalts in Mailand saß Zündel wieder im Bahnhofbuffet, auf dem gleichen Stuhl sogar wie vier Tage zuvor. Doch dunklen ihn die Tage Jahre. Er dachte an seinen furchtbaren Fund. Zweimal schon war ihm der Finger im Traum erschienen. Auch wachend bewahrte er das Unerklärliche und wollte warten auf dessen Begreifbarkeit.
    Am Nebentischchen saß ein Paar. Der junge Mann trug ein kariertes Hemd. Er schluchzte lautlos. Die Frau streichelte ihm den Nacken, und mit einem orangen Papiertaschentuch trocknete sie ihm die Tränen. - Wie lieb sie ist, dachte Zündel. Weiter nördlich werden die Frauen meist hart, wenn der Mann sich schwach zeigt. - Einmal, vor Jahren, hatte er sich von Magda verlassen geglaubt, war immer tiefer versunken in Verzweiflung und Ohnmacht, hatte gedürstet nach einem einzigen zärtlichen Wort. Endlich hatte Magda sich zu ihm gesetzt (Distanz neunzig Zentimeter) und gesagt: Wir müssen über unsere Beziehung reden! - Und war es diesmal nicht wieder ähnlich gewesen, als er mit seiner Zahnlücke heimkehrte, versehrt, bedrückt, bestohlen? Ach ja, ich sitze also irgendwo, denke an meine Frau, an meinen Beruf, an meine paar Freunde, ich bin entbehrlich im äußersten Grad, ohne viel Selbstmitleid, ohne viel Zukunft. Daß ich existiere, seh ich dem Kellner an, der meine Münzen zählt. - Der Sinn des Lebens. Man hüstelt geniert, wenn der aufs Tapet kommt, und denkt an Pubertät. Aber sie ist klebrig, die Sinnfrage, und besondere Anhänglichkeit beweist sie dem, der sie - negativ natürlich - schon längst beantwortet hat. Ihm nur stellt sie sich. Wie seltsam, daß es Probleme gibt, die gelöst sein müssen, bevor sie sich aufdrängen.

    10

    In Genua goß es. Er stand unter den Arkaden beim Hauptbahnhof, blickte hinüber und hinauf zum Denkmal des Cristoforo Colombo und dachte: Was soll ich hier? Was soll ich überhaupt? Und woher nahm jener seine Energie? - Ich werde meinen Körper zu einem Hotel schieben müssen, vielleicht er mich. Matt sind wir beide. So komm, es wird dunkel, wir gehn ein Plätzchen suchen, da wollen wir uns hinlegen und anheulen gegen die Tapferkeitsparolen von Jahrtausenden. Zündel nahm das erstbeste Albergo im Hafenviertel. Das Albergo hieß nur ALBERGO, genaugenommen nur ERGO, denn die ersten drei Buchstaben der Leuchtschrift, die schief über der Eingangstür schwebte, gaben kein Licht mehr ab. Das Zimmer: grenzenlos ungemütlich. Von der wasserfleckigen Decke herab hing ein nackter Neonring. Die Wände waren, wo der Verputz noch haftete, in vergilbtem Hellgrün gehalten. Das Bett war ein Eisenbett, der Stuhl ein Plastikstuhl, schadhaft und hellgrün. Der Kleiderschrank, dessen Türe offenstand, da Schloß und Schlüssel fehlten, war flüchtig überstrichen mit hellgrüner Dispersion. Unter dem Lavabo stand ein kleiner, gelber Kübel aus Plastik. Kein Bild an der Wand. Nicht einmal Jungfrau Maria.

    Zündel wollte sich waschen. Der Heißwasserhahn hatte den ewigen Umgang, und dem aufgedrehten Kaltwasserhahn entströmte ein endloses Geblubber, dann aber, als Zündel bereits resigniert hatte, ein winziger Wasserfaden. - Immer dieselbe Taktik, dachte er. Genau wie bei den

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