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Zuendels Abgang

Zuendels Abgang

Titel: Zuendels Abgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Werner
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etwas zu tun haben mußte mit dem, was man Charakter nennt. (Ganz ähnlich - so Zündel - verhält es sich mit der Stimme eines Menschen: Ein lautes, schneidiges Stimmorgan allein ist noch nicht zwingend unsympathisch; erst die Artverwandtschaft mit seinem Inhaber macht es dazu.)
    Kurz: Zündels Widerwille, Soldat zu sein, war primär der Widerwille, mit Männern zusammenzusein, die gerne Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere waren. Doch schon im Verlauf der Rekrutenschule hatte sich über dem naturgegebenen Unbehagen ein anderes aufgebaut: Die meisten Vorgesetzten, so glaubte Zündel zu spüren, stellten die Landesverteidigung in den Dienst ihrer Privatneurosen, bestenfalls umgekehrt. Die Freude am Kommandieren und Kontrollieren; das Lechzen nach Gleichschritt und Einheitlichkeit; der erstaunliche Eifer, mit dem für kurze Haare, geschlossene Kragenknöpfe und blanke Gamellen gesorgt wurde - das alles, so wenigstens schien es Zündel, stand in keinem nachvollziehbaren Verhältnis mehr zu Heimatliebe und Landesverteidigung. Es waren Triebhaftigkeiten, die sich irgendwie verselbständigt und den Bezug zum ursprünglichen Ziel verloren hatten. Es waren, mit einem Wort, Perversitäten. So jedenfalls schien es Zündel, der sich im übrigen stets Mühe gab, die Sache recht zu machen, obwohl sich seine Vorbehalte im Lauf der Zeit zu Argumenten auswuchsen, die das einst nur als fremd und lästig Empfundene nun auch ethisch, ja politisch musterten. Aber fast immer, wenn er mit Anhängern dieser Institution diskutierte, stieß er auf einen Realismus, der so fraglos robust, so erschütternd sattelfest auftrat, daß Zündel sich sekundenweise kindisch vorkam. Sein Staunen darüber, daß Menschen einander immer und ausnahmslos abschlachten, sobald ein paar seelisch verlotterte Vaterfiguren es wünschen, dieses Staunen war wohl wirklich ein wenig naiv, und wenn er dann nachts im Bett lag und alles noch einmal der Spur nach überdachte, so wußte er nicht mehr, ob der Sachverhalt, über den er staunte, überhaupt ein Argument für die Richtigkeit seiner Position war oder ob er - der Sachverhalt - nicht vielmehr denen recht gab, die sich dazu entschlossen hatten, ihn -den Sachverhalt - gelassen einzukalkulieren. Zündel sah, daß es viele Menschen gab, die dazu neigten, mit den vorhandenen Realitäten möglichst zutraulich umzugehen. Diese Anschmiegsamkeit lohnte sich immer, gewährt doch das Bestehende, breitschultrig wie es ist, Geborgenheit und Selbstvertrauen. Der Realist nämlich hat immer recht. Sofern er die wärmeren Ideale gründlich genug verscharrt hat, erfährt er nur noch Bestätigung. Bricht ein Krieg aus, nickt er geschmeichelt. Er hat es ja immer gesagt. Die Katastrophe gibt ihm recht, und das ist ihr erfreulicher Aspekt. Der Realist hat den Krieg nicht gewollt. Darum war er stets für Rüstung und Aufrüstung. Aber das Unvermeidliche kann auch ein Realist nicht vermeiden, und darum bereitet er sich anständig darauf vor. Und tritt es dann ein, das Unvermeidliche, so ist bewiesen, wie notwendig die Vorkehrungen waren. Der Ernstfall ist ein fairer Kumpel. Wer sich und ihn besonnen vorbereitet, bleibt niemals ohne Lohn.

    Als Zündel ins Abteil zurückkam, lehnten die Offiziere tief und schief in ihren Polstern. Beide schlummerten mit offenem Mund. Beide schnarchten, nicht laut, aber hörbar. Mein Gott, dachte Zündel, ich brüte im Speisewagen über militärischen Lebensfragen, und die sägen selig vor sich hin. - Er stieg über drei Beine und setzte sich an seinen Platz.
    Leichtfüßig möcht ich werden, dachte er. Frohmütig, beschwingt und unernst, ein Eichhörnchen, mein Gott, ich schaff es nicht, ich schaff es nicht. Dann schlief auch er ein. Stimmen weckten ihn halbwegs, klangen wie fernes Geplätscher und blieben ohne Belang. Allmählich verstand er einzelne Wörter, wie »Schwerpunkt« und »Handlungsspielraum«. Endlich blieb ein ganzer Satz an ihm hängen und machte ihn wach: »Der größte Dorn im Auge sind für mich Wehrmänner, welche sich an mir vorbeidrücken, anstatt frisch zu grüßen und mir dabei in die Augen zu blicken.«
    Aha, dachte Zündel, das also sind die Sorgen dieser Schnarchbrüder, jetzt wird es spannend. Er blinzelte ein wenig und erschrak. Die zwei Herren standen bereits, hatten die Hüte auf und griffen eben nach ihren schwarzen Mäppchen. Als der Zug zu bremsen begann, verließen sie das Abteil. Die Schiebetür schlössen sie sanft. Zündel schlug die Augen auf und sah, daß man in

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