Zuflucht im Teehaus
auf ein merkwürdig vertrautes Gesicht – ein alter Japaner mit stechenden Augen. Ich sah mir das Schwarzweißfoto und die dazugehörige Bildunterschrift genauer an.
Nomu Ideta. Ich überflog den Artikel über den Kunsthändler in Denen-Chofu, der eine jüngere Schwester namens Miss Haru Ideta hinterließ. Er war an Komplikationen gestorben, die im Zusammenhang mit seiner Diabetes-Erkrankung aufgetreten waren.
»Nein«, sagte ich und zerknüllte die Seite mit den Nachrufen. Ich hatte den alten Mann erst ein paar Tage zuvor gesehen. Und da war er noch ziemlich lebhaft und streitsüchtig gewesen.
»Heute gibt’s nichts Interessantes? Na ja, dann gehen wir eben schwimmen. Rei, du kannst gern mitkommen.«
»Ich kann nicht! Ich meine, tut mir leid, ich habe zu tun.« Ich ging ins Bad, den einzigen Raum, in dem ich ein paar Minuten allein sein konnte, lange genug, um darüber nachzudenken, warum der Nachruf mich so durcheinander gebracht hatte und warum ich nach Denen-Chofu fahren würde.
In Nomu Idetas Viertel hatte ich das Gefühl, daß alle Leute von seinem Ableben wußten. Ein paar Jungen kickten lustlos einen Ball hin und her, und die Hausfrauen hatten aufgehört, ihre Auffahrten zu kehren, um sich mit leiser Stimme zu unterhalten und die Autos zu beobachten, die vor dem Haus der Idetas hielten. Sie musterten auch mich, die ich dem Anlaß gemäß in einem schwarzen Kleid gekommen war.
Diesmal stand das Bambustor ein wenig offen. Ich folgte zwei Frauen, die ins Haus marschierten, ohne zu klingeln.
»Wann findet die Beisetzung denn statt?« fragte ich, während ich hinter ihnen her in die Küche ging, wo sie Lackbehälter mit Nahrungsmitteln auszupacken begannen.
Die jüngere der beiden, die ein pink-weißes T-Shirt mit dem Aufdruck BUTTERFLY C’EST LA VIE trug, lächelte mich an, als sei ich ebenfalls gekommen, um in der Krise behilflich zu sein. »Ideta-san arrangiert gerade alles mit dem Priester im Tempel. Wir werden es bald wissen. Sie sind …?«
»Ich bin wegen der Möbel hier«, improvisierte ich, weil ich meinen richtigen Namen nicht nennen wollte.
»Aber natürlich, die Antiquitäten!« sagte die ältere der beiden Frauen, deren rundes Gesicht dem der jüngeren Frau so sehr ähnelte, daß ich zu dem Schluß kam, sie müßten Mutter und Tochter sein. »Das Obergeschoß wird für die Feier ausgeräumt werden müssen, nicht wahr? Allerdings muß ich sagen, ich hätte erwartet, daß Sie in Uniform kommen.«
»Eigentlich bin ich hier, um die Sachen zu schätzen. Ich habe erst heute morgen von dem Todesfall erfahren.«
»Ja, es ist ganz plötzlich geschehen, hat sich nicht lange hingezogen, wie wir es erwartet hatten«, pflichtete mir die Mutter bei. »Diese neuen Maschinen sind einfach gefährlich …«
»Was für Maschinen?«
»Mr. Ideta hatte ein Dialyse-Gerät wegen seiner Diabetes. Ein Schlauch führte von seinem Arm zu dem Gerät, und so wurde sein Blut alle paar Tage gewaschen.«
»Wie in einer Waschmaschine«, fügte ihre Tochter hinzu, und die Mutter warf ihr einen tadelnden Blick zu, bevor sie fortfuhr: »Normalerweise fließt das Blut in einem Kreislauf von seinem Körper in die Maschine und dann wieder zurück in seinen Körper. Aber das letzte Mal …«, jetzt mußte die Mutter schlucken, »… hat das Gerät das Blut aus seinem Körper geholt, aber nicht wieder zurückgepumpt.«
»Das heißt, daß er gestorben ist, weil er kein Blut mehr im Körper hatte«, sagte ich mit zitternder Stimme. »Wie konnte das denn passieren?«
»Offenbar hat ein Hebel geklemmt. Die arme Miss Ideta macht sich schreckliche Vorwürfe, obwohl dazu natürlich keinerlei Anlaß besteht. Schließlich hat sie dem alten Mann ihr ganzes Leben geopfert!«
»Eigentlich sollte sie jetzt ihre Ruhe haben und ihr Leben in Frieden leben, aber es ist alles so schrecklich«, meinte die Tochter.
»War es denn nicht die Schuld der Krankenschwester?« fragte ich.
»Die Krankenschwester war nicht im Haus. Miss Ideta hat den Umgang mit dem Gerät vor zehn Jahren gelernt, um die Kosten für eine Krankenschwester zu sparen. Sie hatte keine Probleme damit. Sie hat das Gerät angeschaltet und ist in den Garten gegangen, um die Wäsche aufzuhängen. Als sie alles aufgehängt hatte, war ihr Bruder gestorben.« Die Tochter beendete ihre Schilderung flüsternd.
Ich fragte mich, ob die Ärzte, die die Obduktion durchgeführt hatten, das dachten, was ich jetzt dachte. In Japan ist Euthanasie genau wie in den meisten Ländern
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