Zug um Zug
sich vor, es gäbe eine anonyme Anzeige gegen Sie oder mich wegen eines Offizialdeliktes. Dann muss die Staatsanwaltschaft tätig werden. Und dann sorgt der Denunziant dafür, dass eine Boulevard-Zeitung bei der zuständigen Staatsanwaltschaft nachfragt: Sagen Sie mal, gibt es eine Anzeige und ermitteln Sie gerade gegen Schmidt oder Steinbrück? Die Staatsanwaltschaft bestätigt das. Wenn es sich um eine mitteilungsbedürftige Staatsanwaltschaft handelt, die aus laufenden Ermittlungsverfahren interpretationsgeeignete Einzelheiten preisgibt, dann sind wir kaputt.
Ich habe es als Regierungschef in NRW erlebt, dass die Presse über Informationen aus laufenden Ermittlungsverfahren verfügte. Meinen damaligen Justizminister habe ich mal gebeten, solche Indiskretionen gegenüber der Generalstaatsanwaltschaft zum Thema zu machen. Daraufhin hat er gesagt: Bist du wahnsinnig geworden, das halten wir nicht aus. Das wird sofort als politische Einmischung diskreditiert und landet in der Öffentlichkeit. Daraufhin habe ich gesagt: Entschuldige bitte, Herr Justizminister, die Staatsanwaltschaften sind doch der einzige Bereich der Justiz, der weisungsabhängig ist vom Justizminister. Da sagt er: Ich würde niemals von meinem Weisungsrecht Gebrauch machen, weil ich die Auseinandersetzungen darüber mit den Staatsanwaltschaften verlieren würde.
Schmidt: Einige Staatsanwälte haben heutzutage ein ähnliches Defizit an öffentlicher Moral wie einige der Karlsruher Richter. Da ist gar kein Zweifel. In einem erschreckenden Ausmaß ist das Zusammenspiel mit der Presse selbstverständlich geworden. Trotzdem, Peer, bin ich skeptisch, was das Prinzip der Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft angeht. Das ist in meinen Augen eine höchst zweifelhafte Angelegenheit. Und weil sie so zweifelhaft ist, deswegen sagte Ihr Justizminister ja auch, dass er niemals von seinem Weisungsrecht Gebrauch machen werde. Allerdings ist das Zusammenspiel zwischen Staatsanwälten und Presse ebenso eine höchst zweifelhafte Angelegenheit. Da fehlt es an Berufsmoral. Wenn das so weitergeht, haben wir demnächst ein Zusammenspiel zwischen Mitgliedern des Gerichts und der Presse während des Prozesses – oder noch bevor der Prozess angefangen hat.
Steinbrück: Das haben wir jetzt schon. Denken Sie an den Fall Kachelmann. Das ganze Verfahren wurde von Anfang an über die Medien gespielt. Die Rolle von Alice Schwarzer mit ihren Kommentaren in der Bild -Zeitung, die sie doch früher als sexistisches Monstrum empfunden haben dürfte, ist mir bis heute nicht klar.
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Schmidt: Als letztes Stichwort haben wir die Parteien auf dem Zettel. Lassen Sie uns mal mit den Grünen anfangen. Dem Joschka Fischer würde ich heute staatsmännische Urteilskraft attestieren. Das hat allerdings insgesamt dreißig Jahre gedauert, und Fischer ist einstweilen eine Ausnahmeerscheinung. Am Anfang hat er im Amt des Außenministers in meinen Augen einen schwer verzeihlichen Fehler begangen, nämlich zu sagen: Die Deutschen sind wegen Auschwitz moralisch verpflichtet, im Kosovo und in Bosnien und in Herzegowina einzugreifen.
Steinbrück: Das halte ich nun für eine ganz schwierige Frage: Muss ich auf dem europäischen Kontinent eingreifen, wenn es sich um Völkermord handelt? Im Falle dieses Konfliktes handelte es sich eindeutig um Völkermord. Also, ich teile Ihre Bedenken mit Blick auf ein militärisches Eingreifen außerhalb von Europa – darüber sprachen wir schon. Aber damals im Bosnienkrieg stellte sich schon die Frage, ob es jenseits der Regeln des Völkerrechtes nicht doch auch eine besondere deutsche Verpflichtung gab, Völkermord in Alt-Jugoslawien zu verhindern. Allerdings ist jede historische Analogie mit Auschwitz höchst gefährlich und geht in hundert Prozent der Fälle in die Irre.
Schmidt: Dem würde ich erstens einhundertprozentig zustimmen – jeder Vergleich mit Auschwitz ist unangemessen. Auschwitz und Holocaust sind exorbitant. Zweitens, was die Intervention auf dem Balkan angeht: Die hat immerhin gleichzeitig zu Bomben auf die unbefestigte Stadt Belgrad geführt. Und das war vorhersehbar. Für mich jedenfalls. Und nicht zu verantworten. Fischer würde das heute natürlich immer noch verteidigen, aber er würde einen solchen Fehler heute nicht wieder machen, ist mein Eindruck. Der Mann ist gereift, und er will nichts mehr werden, das heißt, er gibt sich Mühe, das, was er für die objektive Wahrheit und für die vernunftmäßige
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