Zuhause ist ueberall
Geheimdienst, erfunden.
Für uns Kriegs- und Diktaturkinder ist das alles neu und faszinierend. Da können die Russen nicht mithalten. Auch sie haben ein sowjetisches Informationszentrum mit Bibliothek, aus der ich mir später einmal »Das Kapital« ausleihe. Da muss man doch wenigstens einmal hineinschauen, denke ich mir. Ich vergesse immer, es zurückzugeben. Als ich das endlich tun will, gibt es die Bibliothek nicht mehr. Der dicke Band steht immer noch bei mir zu Hause in einem Regal, immer noch ungelesen.
Aber die eigentliche Entdeckung jener Jahre ist die österreichische Literatur zwischen 1900 und 1938. Gilli und ihr Freund Rudi Schönwald, den sie später heiratet, ein Maler und Zeichner, der die Nazizeit in der Emigration nur knapp überlebt hat, schleppen unermüdlich Bücher heran, und wir lesen, lesen, lesen. Arthur Schnitzler und Robert Musil. Hugo von Hofmannsthal und Hermann Broch. Joseph Roth und Karl Kraus. Rudi kann »Die letzten Tage der Menschheit« seitenweise auswendig und trägt besonders die satirisch-wienerischen Teile brillant für uns vor. »… grüß dich Pokorny, grüß dich Powolny …« – die Zeile aus der ersten Szene des berühmten, einem »Marstheater« zugedachten Stücks wird zur gängigen Grußformel. Aber auch der skurrile »Gaulschreck im Rosennetz« von Fritz von Herzmanovsky-Orlando ist ein Lieblingsbuch, besonders die Geschichte vom Hofzwerg, der die böhmische Sprache erfunden hat, um einen Erzherzog von der Melancholie zu heilen. Das ist also auch Österreich, nicht nur Berge und Enzian, stelle ich fest und entwickle prompt einen leidenschaftlichen Österreich-Patriotismus.
Dieser bezieht sich zunächst auf Wien. Die Stadt wird meine Stadt, bald gleich geliebt wie mein unvergessenes Prag. Ich gehe durch die Straßen und entdecke auch hier immerfort Geschichte und Geschichten. Hier war die Poliklinik, in der Schnitzler arbeitete und die die Kulisse für »Professor Bernhardi« abgab. Da ist Doderers Strudlhofstiege. Hier wohnte der Mann ohne Eigenschaften. Und da sind die berühmten Kaffeehäuser, in denen alle unsere Lieblingsautoren aus und ein gingen, das Central, das Griensteidl, das Museum. Wir selber gehen ins Café Hawelka.
Aber auch für die Reize der von mir zunächst wenig geschätzten österreichischen Provinz gehen mir jetzt die Augen auf. Irgendwann erwerbe ich ein altes Auto, einen Käfer Cabrio mit mehrfach geflicktem Dach, und wir erkunden Niederösterreich, die Steiermark, das Burgenland. In schäbigen Pensionen oder bäuerlichen Fremdenzimmern kann man um ein paar Schilling übernachten. Ein Glas Wein und ein Schmalzbrot dazu können sogar wir uns leisten. Von Tourismus ist noch weit und breit keine Rede, und wir staunen über die Schönheit der Dörfer und Kleinstädte, die noch von keinen Bausünden ruiniert sind, und über die offenen Wiesen und Felder, noch gänzlich unverhüttelt. Erst jetzt bin ich wirklich in Österreich angekommen.
Und eines Tages folgt auf die scheinbar endlose Kette von prekären Gelegenheitsjobs endlich auch ein richtiger Beruf. Ich habe ein paar kleine Texte geschrieben, und mein Bruder Jakob ermutigt mich, sie an die Tageszeitung Die Presse zu schicken. Mit deren Herausgeber Fritz Molden, einem abenteuerlustigen jungen Mann mit roten Haaren und einer bewegten Vergangenheit im Anti-Nazi-Widerstand, ist er befreundet. Und wirklich, die Zeitung druckt meine Versuche. Schließlich, Anfang 1956, bietet Molden mir sogar einen Job in seiner Lokalredaktion an. Er fragt mich, was ich studiert habe. Etwas kleinlaut berichte ich von meinen beiden unvollendeten Studienanläufen. Aber das stört ihn nicht. Wenn Sie gesagt hätten, Publizistik, meint er, hätten Sie gleich wieder gehen können. Diese Erfahrung erhärtet mein lebenslanges Vorurteil gegen diese später höchst populär gewordene Studienrichtung. Erleichtert breche ich nun auch offiziell mein Studium ab. Ich bin jetzt Reporterin.
Schauplatz der Originale
Die Redaktion der Presse ist in jenen Anfangsjahren eine Etage in der Universitätsstraße. Eine Setzerei im Hause gibt es nicht. Wir schreiben unsere Manuskripte auf riesigen, laut klappernden Underwood-Schreibmaschinen, und der Redaktionsdiener, Herr Soukup, fährt damit auf seinem Moped in die Setzerei in den neunten Bezirk. Wir sitzen zu fünft in der Lokalredaktion, ich bin die einzige Frau. Gegen fünf Uhr Nachmittag, wenn sich der Redaktionsschluss nähert, wandert Herr Derka, der Lokalchef, nervös zwischen
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